Das Blut der Azteken
ich ihr die beiden Bücher, die ich gefunden hatte.
»Habt Ihr das unter dem Sitz gesucht? Zwei anstößige Bücher, die von der Inquisition verboten sind?«
Erschrocken und schuldbewusst riss sie die Augen auf.
»Ach, Ihr seid so ein schönes Mädchen. Es wäre ein Jammer, wenn die Inquisition Euch bei lebendigem Leibe die Haut abziehen würde.«
Sie rang um Fassung. Auf ihrem Gesicht malten sich Angst und Wut.
»Wegen solcher Bücher werden Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
Leider ließ sie sich nicht einschüchtern.
»Du willst mich erpressen? Ich könnte doch behaupten, dass die Bücher dir gehören und dass du sie mir verkaufen wolltest. Wenn ich das sage, wird man dich wegen Diebstahls auspeitschen und dich zum Sterben in die Bergwerke schicken.«
»Meine Lage ist noch viel schlimmer«, erwiderte ich. »Ich werde von einer Meute gejagt, und zwar wegen eines Verbrechens, das ich nicht begangen habe. Als lépero habe ich keine Rechte. Wenn Ihr um Hilfe ruft, wird man mich hängen.«
Offenbar klang meine jugendliche Stimme aufrichtig, denn ihre Wut war schlagartig verraucht, und sie beäugte mich zweifelnd.
»Woher weißt du eigentlich, dass die Bücher verboten sind? Léperos können nicht lesen.«
»Ich habe Vergil auf Latein und Homer auf Griechisch gelesen. Ich kenne das Lied der Lorelei, mit dem sie die Seeleute an den Felsen des Rheins ins Verderben gelockt hat. Und auch das Lied der Sirenen, das sich Odysseus, an den Mast gebunden, anhören musste.«
Wieder riss sie die Augen auf und sah mich dann ungläubig an. »Du lügst. Alle léperos sind ungebildet und können nicht lesen.«
»Ich bin der Bastard eines Königs und heiße Amadís de Gaula. Meine Mutter war Elisena. Nach meiner Geburt hat sie mich in einer hölzernen Arche, das Schwert meines Vaters an meiner Seite, auf dem Meer ausgesetzt. Ich bin Palmerin de Oliva. Ich wurde von Bauern großgezogen, doch meine Mutter war eine Prinzessin von Konstantinopel, die meine Geburt vor ihrem König geheim halten musste.«
»Du bist wahnsinnig. Wahrscheinlich hast du diese Geschichten irgendwo aufgeschnappt und behauptest jetzt, lesen zu können wie ein Gelehrter.«
Da ich wusste, dass feine Damen sich von Mitleid ebenso überzeugen lassen wie von Schmeicheleien, zitierte ich Pedro, den Straßenjungen aus Pedro, der Gerissene von Cervantes.
Ein Findling war ich, ein Sohn des Steins,
ich hatte keinen Vater.
Kein größeres Unheil kann einen Menschen befallen.
Weiß nicht, wo ich aufgewachsen bin.
Vermutlich war ich eine der vielen
halb verhungerten Waisen in einem Asyl.
Bei magerer Kost und reichlich Prügel
lernte ich, meine Gebete zu sprechen,
und auch das Lesen und Schreiben.
Doch ich lernte auch,
Almosen zu unterschlagen,
eine Katze als Hasen zu verkaufen
und mit zwei Fingern zu stehlen,
zitierte sie textkundig weiter.
Leider kannte sie sich nicht nur in der Dichtkunst aus, sondern auch im finsteren Herzen eines lépero.
»Was machst du in dieser Kutsche?«
»Ich verstecke mich.«
»Welches Verbrechen wirft man dir vor?«
»Mord.«
Wieder schnappte sie nach Luft. Sie streckte die Hand nach der Tür aus.
»Aber ich bin unschuldig.«
»Kein lépero ist unschuldig.«
»Wie wahr, Señorita, ich habe viele Diebstähle auf dem Gewissen - Essen und Decken -, und meine Bettelmethoden mögen fragwürdig sein. Doch ich habe noch nie einen Menschen umgebracht.«
»Warum wirft man es dir dann vor?«
»Ein Spanier hat zwei Männer getötet, und jetzt steht sein Wort gegen meines.«
»Du kannst den Behörden doch sagen…«
»Kann ich das?«
Selbst in ihrem zarten Alter wusste sie die Antwort.
»Sie beschuldigen mich des Mordes an Bruder Antonio…«
»Heilige Maria, ein Priester!« Sie bekreuzigte sich.
»Aber er ist der einzige Vater, den ich je gekannt habe. Er hat mich aufgezogen, als ich im Stich gelassen wurde, und hat mich das Lesen, Schreiben und Denken gelehrt. Nie hätte ich ihm etwas angetan. Ich habe ihn geliebt.«
Stimmen und Schritte unterbrachen mich.
»Mein Leben liegt in Eurer Hand.«
Ich versteckte mich wieder unter der Decke. Koffer wurden geräuschvoll auf das Dach der Kutsche gestellt, und das Gefährt schaukelte, als die Passagiere einstiegen. Ich erkannte zwei Frauen und einen Jungen. Aus seinen Schuhen, seinen Hosenbeinen und dem Klang seiner Stimme schloss ich, dass er zwölf oder dreizehn Jahre alt sein musste. Offenbar war das der Junge, der versucht hatte, mich zu schlagen. Eine der
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