Das Blut der Azteken
der schwarz gekleideten Frau. Ich hatte mich in die Arme meiner Verfolger geflüchtet.
»Es wird ihm nicht gelingen, die Stadt zu verlassen«, sagte Ramón. »Ich habe einhundert Pesos auf seinen Kopf ausgesetzt. Bei Sonnenuntergang ist er tot.«
»Tot? Und was ist mit einem Prozess?«, hakte Eléna nach.
Ich hörte einen Schlag. Wieder schrie Eléna nicht auf.
»Ich habe dir befohlen zu schweigen, Mädchen. Du redest nur noch, wenn du gefragt wirst. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Mestizen haben dem Gesetz nach keine Rechte. Ramón, schickt eine Nachricht zur Hacienda, sobald Ihr etwas erfahrt. Wir werden uns ein paar Tage dort aufhalten, bevor wir in die Hauptstadt weiterreisen. Wenn Ihr gute Neuigkeiten habt, kommt selbst.«
»Ja, Euer Gnaden.« »Gute Nachrichten« bedeuteten, dass ich tot war. Die Kutsche rollte weiter. Der Mann, der mich umbringen wollte, blieb zurück, um die ganze Stadt nach mir abzusuchen und mich ins Jenseits zu befördern. Und vor mir lag die Hacienda, auf der der Mörder erscheinen würde, wenn er mich in der Stadt nicht fand.
24
Zwei Stunden lang rumpelte die Kutsche dahin. Aus dem Gespräch der Passagiere schloss ich, dass wir uns noch auf der Straße nach Jalapa befanden.
Zum Glück war die Großmutter eingeschlafen.
Juanita versuchte ebenfalls zu schlafen, wachte von ihrem eigenen schwindsüchtigen Husten jedoch immer wieder auf.
Eléna und Luis wechselten kaum ein Wort miteinander. Offenbar verachtete er Bücher, selbst die religiösen Werke, die sie angeblich las. Seinen spöttischen Bemerkungen entnahm ich, dass sie einen kleinen Gedichtband hervorgeholt hatte und darin blätterte. Für ihn spielten nur Pferde, die Jagd und Duelle eine Rolle. Männlichkeit bedeutete ihm alles.
»Aus Büchern erfahren wir nichts Wissenswertes«, meinte er herablassend. »Sie stammen aus der Feder von jämmerlichen Schreiberlingen und Tintenklecksern, die beim Anblick eines wilden Pferdes oder eines Feindes in Ohnmacht fallen würden.«
»Dein Vater schreibt ausgezeichnet«, erwiderte Eléna.
»Und deshalb habe ich mir auch Don Ramón und deinen Onkel zum Vorbild genommen.«
»Verspotte deinen Vater nicht«, tadelte seine Mutter ihn milde.
»Ich werde ihn erst dann achten, wenn er die angespitzte Gänsefeder gegen ein gut geschliffenes Schwert eintauscht.«
Zur Mittagszeit hielt die Kutsche an einem Gasthaus. Das Gespräch der Passagiere verriet mir, dass die Kutschfahrt hier zu Ende war. Die Frauen würden in Sänften und Luis zu Pferde weiterreisen.
Nachdem alle ausgestiegen waren, schlüpfte ich unter dem Sitz hervor. Als ich aus dem Fenster spähte, sah ich Eléna und die anderen auf der schattigen Veranda stehen, wo sie darauf warteten, das Gasthaus zu betreten. Ich verließ die Kutsche durch die dem Haus abgewandte Tür und rannte in ein einige hundert Schritte entferntes Gebüsch. Erst als ich dort angekommen war, sah ich mich um und bemerkte, dass Eléna allein draußen stand. Ich hob die Hand, um ihr zuzuwinken, doch in diesem Moment kam Luis heraus und bemerkte mich.
Wie von wilden Furien gehetzt, lief ich davon.
25
Ich musste unbedingt die Straße nach Jalapa verlassen. Falls der böswillige kleine Luis mich für den gesuchten Mörder hielt oder falls Eléna so leichtsinnig war, sich ihm anzuvertrauen, würden die Häscher mir bald auf den Fersen sein. Also eilte ich weiter, so schnell mich meine Füße trugen, um einen der Pfade zu erreichen, die von der Straße abgingen und sich durch die in den Bergen verstreuten Dörfer schlängelten. Da ich mich in dieser Gegend nicht auskannte, war es mir unmöglich, mich einfach in den Wald zu schlagen und auf die Suche nach einem Dorf zu machen. Ich hatte Angst und befürchtete, ergriffen, gefoltert und getötet zu werden. Denn mit meinen fünfzehn Jahren wollte ich auf keinen Fall sterben, ohne Vergeltung geübt zu haben.
Ich weiß, dass das Leben hart ist und dass es für die Armen, die Indios und die Mischlinge keine Gerechtigkeit gibt. Grausamkeiten gehören zum Leben, und Verbrechen führen nur zu weiteren Schandtaten, so wie die Kreise, die sich im Wasser ausbreiten, wenn man einen Stein hineinwirft. Aber die Erinnerung an Ramón, wie er Bruder Antonio den Dolch in den Leib stieß, schürte meine Wut und verfolgt mich bis heute. Schon damals war ich fest davon überzeugt, dass ich auch im Grab keine Ruhe finden würde, wenn es mir zuvor nicht gelang, Bruder Antonios Tod zu rächen.
Ich konnte niemanden um Hilfe
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