Das Blut der Azteken
bitten. Der Alcalde hätte einem Mestizen nie geglaubt, wenn sein Wort gegen das eines Spaniers stand. Selbst wenn mich jemand angehört hätte, wäre mir keine Gerechtigkeit widerfahren.
Als ich Hufgetrappel hörte, verließ ich rasch die Straße und versteckte mich im Gebüsch. Zwei Reiter kamen vorbei, doch ich erkannte sie nicht. Vielleicht waren es ja Kuhhirten, die nach den Festlichkeiten in Veracruz zu ihrer Hacienda zurückkehrten; es konnten aber auch Häscher auf der Jagd nach einem Bettlerjungen sein, auf dessen Kopf hundert Pesos Preisgeld ausgesetzt waren - mehr als ein Kuhhirte in einem Jahr verdiente.
Kaum dass es wieder still wurde, eilte ich zurück auf die Straße und schritt zügig aus.
Nachdem ich eine Stunde lang marschiert war, sah ich einige Indios, die von der Hauptstraße in einen kleinen Pfad abbogen. ›Huatusco‹ stand auf einem hölzernen Schild an der Abzweigung. Ich hatte diesen Namen zwar schon einmal gehört, wusste jedoch nicht, ob es sich um ein Dorf oder um eine Stadt handelte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie weit es war und was ich nach meiner Ankunft dort tun sollte. Als ich das Schild auf dem Weg zum Markt bemerkt hatte, hatte ich Bruder Antonio gefragt, ob Huatusco eine wichtige Ortschaft sei. Er kannte sie nicht, erwiderte aber, es sei vermutlich ein Indiodorf. »Von der Straße zwischen Veracruz und dem Tal von Mexiko gehen Dutzende von Pfaden ab«, hatte er gesagt, »und die meisten führen von einem Indiodorf zum anderen.«
Als ich den Fußpfad entlangtrottete, wurde meine Angst vor den Verfolgern allmählich von anderen Sorgen abgelöst: Ich hatte kein Geld. Was sollte ich essen? Von Menschen, die so arm sind, dass sie sich von einer Hand voll Mais oder Bohnen am Tag ernähren, konnte man keine Lebensmittel erbetteln. Wie lange würde ich mich mit Stehlen durchschlagen können, bis ich einen Speer in den Rücken bekam? Auf dem Land fühlte ich mich unsicherer als in der Stadt. Doch es gab hier keine Städte, und ich durfte mich auf der Straße nicht blicken lassen.
Ich war zwar nicht zu jung, um eine Arbeit anzunehmen, verfügte aber über keinerlei Kenntnisse. Dass ich zwei Hände und zwei Füße besaß, befähigte mich nur zu den einfachsten Tätigkeiten. Und in einem Land, in dem die Spanier Indios nur als Lasttiere betrachteten, würde ein halbwüchsiger Junge nicht sehr gefragt sein. Außerdem hätte ich sowieso keine Stelle bei einem Spanier antreten können. Neuspanien war zwar groß, doch es gab im Verhältnis zu den Indios nur wenige Spanier. Die Nachricht, dass ein Mestize zwei Spanier getötet hatte, würde sich ausbreiten wie ein Lauffeuer. Also musste ich allen Spaniern aus dem Weg gehen.
Die Sprache der Azteken hatte ich von den Indios auf den Straßen von Veracruz aufgeschnappt. Ich beherrschte sie zwar nicht fließend, doch da es so viele Indianersprachen und Dialekte gab, würde ich mich damit nicht verdächtig machen. Mit meinem Aussehen jedoch war es eine andere Sache.
Ein Mestize war in den Städten und auf den Landstraßen kein ungewöhnlicher Anblick. In einem Indiodorf aber fiel ein Halbblut sofort auf. Ich war groß für mein Alter und hellhäutiger als die meisten Indios. Allerdings war Ersteres das geringere Problem, weil man mich vermutlich einfach älter schätzen würde. Außerdem waren meine Füße inzwischen so mit Dreck verkrustet, dass man ihnen die wirkliche Farbe nicht mehr ansah.
Da mein Haar nicht so schwarz war wie das der meisten Indios, zog ich mir den Hut tief ins Gesicht. Für die wenigen Male, die ich mich barhäuptig würde zeigen müssen, konnte ich mir das Haar ja mit abgebrannter Holzkohle dunkler färben. Doch jetzt musste ich erst einmal weiter. Die meisten Spanier würden den Unterschied ohnehin nicht bemerken.
Während meine schmutzigen Füße mich weitertrugen, kam ich zu dem Schluss, dass meine Art zu gehen und zu sprechen - meine ganze Körpersprache also - mich am ehesten verraten würde. Ein lépero, der auf den Straßen einer Stadt aufgewachsen war, verhielt sich nicht still und schicksalsergeben wie ein Indio. Unsere Stimmen waren lauter, unsere Bewegungen schneller.
Also musste ich mir das gleichmütige Gebaren angewöhnen, durch das sich die Indios - außer, wenn sie betrunken waren - im Allgemeinen auszeichneten. Wenn ich mit anderen Menschen sprach, durfte ich nicht so lebhaft und selbstbewusst wirken wie sonst.
Im Laufe des Tages hatte es geregnet, und ein Blick zum Himmel sagte mir, dass bald
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