Das Blut der Berge (Die Steinzeit-Trilogie) (German Edition)
sich jedoch vorstellen, was in Telgar vorging und stand ihm zur Seite. Vielleicht konnte er ihm helfen, eine angemessene Stätte für die Totenzeremonien zu finden.
Telgars Sippe kam aus den Bergen. Sie hatten ihre Toten bisher in Höhlen bestattet. In besonderen Höhlen, in denen sie geschützt und versorgt die Reise zu den Himmelslichtern antreten konnten. Seit sie die Berge verlassen und schließlich beschlossen hatten, am großen See zu bleiben, hatte Telgar schon ab und zu darüber nachgedacht, wie ein geeigneter Platz für die Ahnen aussehen könnte. Ihre Zeremonien und Jagdbesprechungen hielten sie in der Haupthütte ab, aber dort konnten ja keine Toten bestatten. Er hatte diese Frage auch immer wieder in der Hoffnung verdrängt, dass die Situation nicht so bald eintreten würde. Doch er war nicht erhört worden. Seit dieser Nacht fand Telgar kaum noch Schlaf. Immer wieder sah er die Gesichter der Toten, hörte die Schmerzenslaute der Verletzten und das Weinen der Kinder. Er hatte die Verantwortung für die Sippe. Und er machte sich Vorwürfe. Sie waren leichtsinnig geworden ob ihrer Größe und Stärke. Das Verweilen an einem festen Ort hatte ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt. Es hatte sie unbeweglich und unvorsichtig gemacht. Zudem hätte ihm klar sein müssen, dass die durchsichtigen Steine nicht nur vermeintliche Freunde anlocken würden. Er hatte zu wenig darüber nachgedacht, zu wenig darüber mit seinen Jägern gesprochen. Vielleicht hätte der Überfall verhindert werden können.
Natürlich, sie hatten überlebt. Sie waren noch da. Das konnten nicht viele sagen, die den Schatten begegnet waren. Und das verdankten sie Tamboo und seinen Leuten. Auch das war gut daran. Sie hatten sich versöhnt. Beide Sippen gingen zaghaft wieder aufeinander zu. Allein Tamboos Sohn Tiboo und Telgars Sohn Tisgar waren sich nicht ganz sicher, was eine neue Zusammenarbeit anging. Tiboo weigerte sich strikt, mit jemandem aus Telgars Sippe zu sprechen, geschweige denn, auf eine Wanderung zu gehen. Tisgar war dennoch – oder gerade deswegen – gemeinsam mit Tamboos mittlerem Sohn Haroo aufgebrochen, um die Schatten zu jagen. Die Schatten zu jagen. Das klang so sinnlos. Telgar war sich nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, seinen Sohn ziehen zu lassen. Aber er wusste, dass er ihn nicht hätte aufhalten können. Und er hatte der Angst nicht nachgeben wollen. Der Angst, die jetzt jeden Tag drohte ihn aufzufressen. Zusätzlich zu der Schuld, die an ihm nagte. Und der Trauer um die Toten.
„Sieh nur.“ Tamboos dröhnende Stimme riss ihn aus dem Strudel der Verzweiflung. Er blickte in die angezeigte Richtung. Die aufsteigende Sonne fiel auf einen einzelnen jungen Baum, der zwischen zwei Felsblöcken hervorragte. Das war an sich keine Besonderheit in dieser Gegend, in den Bergen und um sie herum klammerten sich viele Bäume an und zwischen Felsen. Aber dieser kleine Baum hatte sich durch einen sehr schmalen Spalt seinen Weg zum Licht erkämpft. Und Telgar glaubte, den Baum zu spüren. Seine Kraft schien durch ihn hindurch zu fließen. Erneut sah er Bilder des Überfalls. Aber er sah seine Männer nicht sterben, fühlte keine Angst. Er sah die zwei stolzen Jäger, wie sie einen großen schwarzen Schatten einkreisten und ihm die Speere in Brust und Rücken trieben. Er sah den aufrechten Knaben, wie er einen düsteren wabernden Fleck mit einer Fackel verjagte. Die Gegner waren dabei nur verschwommene treibende dunkle Massen, es konnten Feinde sein, aber auch Wölfe, Hirsche oder Bären. Und dann sah er Rogars starke Tochter, ein helles Licht in der Dunkelheit. Sie lächelte und ihre Haare flatterten im Wind. Telgar sah, wie sich die Abbilder lösten und entschwebten. Er fühlte Hingabe und Erleichterung.
Offenbar hatte die Ausstrahlung dieses Ortes auch Tamboo ergriffen. Er betrachtete den Baum schweigend, als nähme er ebenfalls etwas von ihm in sich auf.
Telgar musste sich sammeln. Er ging zu dem Baum und berührte den Stein. Dann sah er zum Himmel hinauf und atmete tief ein. „Dieser Ort ist etwas Besonderes.“ sagte er. Tamboo nickte. „Ich glaube, die Ahnen haben mir Bilder gesandt.“ „Oder die Götter.“ entgegnete Telgar. „Ich denke, das ist der Platz, den wir gesucht haben.“
Sie setzten sich ins Gras und schwiegen eine Weile.
"Wir werden unseren Leuten hier die letzte Reise ermöglichen." sagte Telgar schließlich. Tamboo nickte. "Und wir werden hier die Götter bitten,
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