Das Blut der Unschuldigen: Thriller
und wartete gespannt auf die Reaktion des Grafen.
»Sind Sie sich da ganz sicher? Dann haben Sie Glück, denn ich selbst weiß immer noch nicht, wer ich bin. Machen wir für heute mit dem Unsinn Schluss. Ich muss morgen früh aufstehen. Bleiben Sie noch länger in Paris?«
»Ja, bis zum Wochenende. Ich muss noch mit jemandem zusammentreffen, der für das Unternehmen unerlässlich ist. Montag habe ich in London um neun Uhr die erste Vorlesung, und am Nachmittag halte ich einen Vortrag am Sitz einer Nicht-Regierungs-Organisation, die für die Verständigung von Ost und West eintritt.«
»Gut, dann wollen wir uns zur Ruhe begeben. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«
»Nein danke. Es ist nicht kalt, und ich gehe in Paris gern zu Fuß.«
Al-Bashir winkte dem Kellner, damit er die Rechnung brachte, obwohl der Graf sie begleichen würde. Das war
al-Bashir mehr als recht, denn das Apicius hatte gesalzene Preise. Doch es lohnte sich – sie hatten exquisit gespeist.
Vor dem Restaurant verabschiedeten sich die beiden mit einem kräftigen Händedruck voneinander. Eine schwarze Limousine, die den Grafen schon erwartet hatte, verschwand sogleich in der Dunkelheit.
Al-Bashir ging die Avenue de Villiers entlang. Er war im Hotel Lutèce am Boulevard Raspail im Universitätsviertel abgestiegen. Die Frau dürfte inzwischen eingetroffen sein. Während er dahinschritt, dachte er über den älteren Herrn nach, mit dem er gerade gespeist hatte. Ein kalter und abweisender Mensch. Seine Bekanntschaft hatte er über einen Kollegen bei einem Kongress über das Mittelalter gemacht, der in Paris stattfand. Dieser Kollege hatte ihn eingeladen, ihn zu einem Abendessen mit einem Adligen zu begleiten, der sich für die Geschichte des Mittelalters interessiere. Da es sich bei dem Lokal um das exklusive Tour d’Argent handelte, hatte al-Bashir zugesagt.
Sie hatten bald gemerkt, was sie voneinander zu halten hatten, und so hatte der Graf nach mehreren Zusammenkünften beschlossen, sich ihm anzuvertrauen. Er suchte jemanden für die Verwirklichung eines Planes, dessen Ausführung jetzt bevorstand. Nie hatte er preisgeben wollen, auf welche Weise er in Erfahrung gebracht hatte, dass sich hinter al-Bashirs Fassade als achtbarer Professor einer der führenden Männer der Gruppe in Europa verbarg, und das bereitete diesem nach wie vor Kopfzerbrechen. Ganz offensichtlich gab es irgendwo eine Sicherheitslücke, da nützte es auch nichts, dass der Graf immer wieder beteuerte, bei ihm sei sein Geheimnis sicher und von ihm aus könne die Gruppe gern sämtliche Hauptstädte Europas in die Luft sprengen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er die politischen Führer dieser Länder wegen ihrer Führungsschwäche
und ihrer Unfähigkeit hasste, Entscheidungen zu treffen. Seiner Überzeugung nach hatten sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, die Welt zu beherrschen, und waren für die Dekadenz des Westens verantwortlich. Mochten sie mit dem Problem fertig werden – er, erklärte er, mache sich nichts daraus. Ohnehin sei er alt und stehe dem Tod näher als dem Leben.
Obwohl al-Bashir glaubte, den Grafen Raymond d’Amis recht gut kennengelernt zu haben, merkte er mitunter, dass er ihn nicht immer verstand. Dazu gehörte der gequälte Blick, der bisweilen in die Augen seines französischen Freundes trat.
Vielleicht hatte es mit seiner aufsässigen Tochter zu tun, die er nie kennengelernt hatte. Die künftige Gräfin d’Amis lebte von klein auf in den Vereinigten Staaten und wusste so gut wie nichts von ihrem Vater.
In der Bar des Lutèce drängten sich die Menschen. Zwar hätte er gern etwas getrunken, ließ sich aber am Empfang sogleich den Schlüssel zu seinem Zimmer geben.
»Hier ist eine Mitteilung für Sie.«
Man gab ihm einen verschlossenen Umschlag, den er dankend einsteckte, ohne ihn anzusehen. Erst in seinem Zimmer riss er ihn auf. Darin stand lediglich eine Nummer: 507. Er seufzte. Er ging hinaus, blieb zwei Türen weiter stehen und klopfte leise an. Eine Frau in einem grauseidenen Morgenrock öffnete und sagte: »Komm rein. Ich hatte Glück. Ich habe gefragt, ob sie ein Zimmer auf diesem Stockwerk hätten, weil ich beim vorigen Mal schon hier war, und der Mann am Empfang war so liebenswürdig, mir den Wunsch zu erfüllen.«
»Du weißt, dass du nicht auffallen darfst«, mahnte er.
»Meinst du etwa, ich falle auf, wenn ich sage, dass ich gern ein Zimmer im fünften Stock hätte?«
»Du musst sozusagen durchsichtig sein, damit dich
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