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Das Blutbuchenfest

Das Blutbuchenfest

Titel: Das Blutbuchenfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Gedächtnis geblieben war: Wereschnikow hatte davon gesprochen, daß irgend etwas – die Würde vermutlich – dem politischen Denken auf dem Balkan »innewohne«, oder so ähnlich, aber »das Innewohnen« hatte sich ihm eingeprägt. Da sprach man mehr als sechzig Jahre deutsch und erfuhr immer noch ein neues Wort, und das gar zur rechten Stunde, wo man es unmittelbar anwenden konnte. Das Innewohnen, das war ja sein gegenwärtiger Zustand. Er wohnte dieser Wohnung, diesem Haus in verborgenster Zelle inne. In dem großen Organismus dieses luxuriösen Appartementhauses im Zentrum der Stadt gab es eine innerste Kammer, in der sein Herz klopfte. Was würde es für das Haus bedeuten, wenn dies Innewohnen – hoffentlich bald! – beendet wäre?
    Die Dunkelhaft ließ Gedanken in Herrn Breegen wachsen, die zutiefst unvertraut waren. Er kannte das Phänomen, wenn er nachts neben Frau Breegen erwachte und nicht wagen durfte, Licht zu machen. Es kam nicht oft vor, zum Glück, war dafür aber um so schrecklicher. Was dann alles auf ihn losstürmte! Was tagsüber fest an der Kette lag, mit Maulkörben und Scheuklappen gesichert, das machte sich im Dunkeln so lange breit, bis er, wie müde er auch war, aufstand, ins Wohnzimmer ging und den Fernseher anschaltete.
    Herr Breegen näherte sich jetzt der Zermürbungsphase. Lange durfte das Abenteuer nicht andauern, sonst ginge es ihm wie jenen allzu spät Ausgegrabenen, Verschütteten, die nie wieder ihre fünf Zwetschgen – Breegens Lieblingsausdruck für die ihm ohnehin verdächtigen fünf Sinne – zusammenbekamen. Und dabei stand ihm der heftigste der Schrecken noch bevor.
    Plötzlich – aber anders als plötzlich war eine Veränderung des Innewohnens gar nicht möglich; dies Abgeschnittensein von der Außenwelt verbot, die Entwicklung wahrzunehmen, die allem Plötzlichen vorausgeht –, plötzlich öffnete sich die Schranktür. Breegen wurde von Licht übergossen, aus dem Schrankinnern und aus dem jetzt erleuchteten Korridor – und er sah vor sich das entgeisterte Gesicht seiner Putzfrau Ivana.
    Man kennt Ivana Mestrovic als harten, beinahe immer rabiaten lebensheftigen Charakter, als männliche Frau, die weibliche Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit der Damen, Gezeter vor Spinnen und Mäusen geradezu verachtete; Ivana erschrak grundsätzlich nie. Wenn sie aber dennoch erschrak, dann bis ins Mark, dann brauchte sie Zeit, um wieder handlungsfähig zu werden. Diese Neigung, sich erschüttern zu lassen, hing aber innig mit ihrer Tatkraft, ja Tatwut, zusammen. Sie rannte durch die Welt, senkte wie ein Widder den Kopf, blickte selbst nur zu Boden und überließ der starken Stirn als Rammbock das Wahrnehmungsgeschäft. So fest umschlossen war ihre Willenskraft, daß sie mit zivilen Mitteln nicht irrezumachen war. Nichts schwächt den Willen so sehr wie Nachdenklichkeit auf seinem Weg zur Selbstverwirklichung. Die umwerfende Gewalt ihrer Schreckhaftigkeit war eine Funktion dieser Willenskraft; ihr blind nach vorn preschendes Lebensgefährt wurde von einem Hindernis auf der Bahn mit der entsprechenden Wucht umgeworfen. Deshalb ihr Schrei, als sie Herrn Breegen erkannte, obwohl sie doch von Maruscha vorbereitet worden war, es gelte dort unten in der Tiefe einem ausharrenden Herrn unauffällig den Ausweg ins Freie zu verschaffen.
    Wie schade, daß man die Szenen im fünften und sechsten Stock nicht gleichzeitig erleben konnte – die tiefe und beklommene Einsamkeit in der Schrankhöhle und das menschenerfüllte, von weichgoldenem Nachmittagslicht überschwemmte Treiben im Stockwerk darüber. Die Musik vermag das Erlebnis solcher Gleichzeitigkeit leichter zu erzeugen, ein munteres virtuoses Geklingel mit der rechten Hand und bedeutungsschwere melancholische Akkorde mit der linken können im Hörer ein wirkliches Bild von der Gemischtheit der Erscheinungen entstehen lassen, dem ein Nacheinander nie gerecht wird. Während Breegen sich wie ein Bär im Winterschlaf ringsum dunkel eingemummelt, aber eben leider nicht schlafend, in sorgenvollen Gedanken erging, wurde oben nicht gegrübelt, sondern agiert. Wereschnikows kindisch verspielter Verliebtheitsgestus – »Liebling!« – erhielt eine kalte Dusche. Maruscha schenkte sich jede Erklärung, warum sie am hellen Tag im Bett lag, und überschüttete ihn mit Vorwürfen, warum er nicht gesagt habe, daß es sich um kein Live-Interview handelte – sie hätten wunderbar dies Interview zusammen anschauen können, sie hätte ihm so

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