Das Blutbuchenfest
in Begleitung eines kleinen südländischen Burschen auf, mit knabenhaft schmalem Körper, aber großem, markantem Kopf, etwas stechenden schwarzen Mauseaugen und einem wilden Haarschopf, der bei genauerer Betrachtung – ich saß ihm einmal länger gegenüber – aber so wild nicht war, sondern eine kunstvolle Schöpfung von Sprays und Bürsten. Der Kleine hieß Tomislaw und behauptete in lupenreinem, sogar gewähltem Deutsch, völlig akzentfrei, aus Montenegro zu stammen, war aber höchstwahrscheinlich in Deutschland geboren, womöglich gar mit deutschem Elternteil. Er verschmähte Bier mit ironischem Ekel, nahm vom Wein nur einen mißtrauischen kleinen Schluck und bestellte dann Whisky. Rotzoff sah ihm bei solchem Prüfungsgehabe amüsiert zu, er hatte Freude an der ausgestellt anspruchsvollen Ungeniertheit seines Gastes. Sonst war es Rotzoff, der andern über den Mund fuhr, hier entdeckte er, in sozusagen noch unschuldiger Frühform, eine souveräne Attitüde, die die seine noch übertraf, weil sie ohne die Gereiztheit, ja Übellaunigkeit auskam, mit der Rotzoff seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft behauptete. Tomislaw war frech, aber er strahlte dabei, als habe die ganze Welt glücklich zu sein, von ihm belehrt und benutzt zu werden.
An dem Vormittag, an dem ich Merzinger betrat, saßen die Herren in Blickrichtung auf den großen Fernsehschirm, auf dem das Spiel vom letzten Abend stumm noch einmal ablief. Gestern hatte es helle Haufen in das Lokal gezogen, in seiner Lautlosigkeit jetzt besaß es etwas Schattenhaftes, das Mark der Aktualität war ihm ausgesogen, und das Wissen, wie die Sache ausgegangen war, ließ die Wiederholung als Bestrafung der Verlierer wirken. Rotzoff und sein junger Gast saßen sich gegenüber und warfen nur gelegentlich einen gleichgültigen Blick zu dem Hin- und Hergelaufe auf dem starkfarbig grün leuchtenden Grasteppich. Beide telephonierten mit gedämpften Stimmen, Rotzoff gelegentlich scharf werdend, Tomislaw eigentümlich tonlos, als habe er nur ein paar knappe Kommandos zu geben, und beide hatten zugleich Zeitungen vor sich, die sie, während sie ihrem fernen Gegenüber lauschten, langsam durchblätterten, selten fand ein Artikel die Gnade ihres Interesses. Was hätten sie in ihrer kostbaren Zeit noch unterbringen können, damit jeder Lidschlag wirklich alles an Information aufnahm, was ihm geboten wurde – die Zeile: »Trinkt, o Augen, was die Wimper hält / von dem goldnen Überfluß der Welt«, hier wurde ihr gehorcht, und da war es gar kein Überfluß mehr, sondern gerade genug, um die trainierten Sinne von Lehrer und Schüler zu unterhalten. Ja, Rotzoff hatte seine pädagogische Neigung entdeckt. Er wollte in gelehrigem Nachwuchs blühen.
Das stille Spiel ging dem Ende entgegen. Die Kamera folgte einem eleganten Athleten mit spiegelblank geschorenem Schädel, der nachdenklich dem Rand des Spielfelds zuschritt, ein Mann, der seine Arbeit und mehr als das getan hat und sich um Lohn und Anerkennung nicht schert, das war in seiner titanenhaften Einsamkeit um so eindrucksvoller, als die Hauptlast des Sieges auf ihm gelegen hatte. Im Hintergrund sah man die Massen der Erregten – so laut sie schrien, kein Ton drang aus den offenen Mündern –, er hingegen war ein Unbewegter, seinen Gedanken hingegeben, nicht mit dem eben glanzvoll absolvierten Spiel befaßt, sondern mit etwas Tiefem, bis zum Grund seiner Person Reichenden. Lässig tänzelnd näherte sich ein Spieler der Gegenpartei, mit dickem schweißnassen Haar, und legte ihm brüderlich den Arm um die Schulter; der kahle Athlet schien das gar nicht zu bemerken. Er wandte nicht den Kopf. Es war, als ob der andere ein Denkmal aus dunkler Bronze umhalse. Er wollte dem Helden ans Ohr heran, er wollte dort hineinflüstern, es sah aus wie die Mitteilung einer Zärtlichkeit vor hunderttausend Augen. Der Athlet versuchte, seinen Kopf wegzudrehen, aber der andere ließ ihn nicht aus: Was er auf der Zunge trug, das sollte unbedingt in die Ohrmuschel des Helden hinein. Die Kamera wich nicht von der kleinen Szene, und so sah man denn auch – gestern abend hatte der ganze Merzinger-Saal geschwirrt und war nicht zur Ruhe gekommen –, wie der Kahlkopf plötzlich einen Schritt nach vorn tat, sich auf dem Absatz drehte – man sagte ihm nach, er könne auf einem Bierdeckel Fußball spielen –, er stand dem Kerl, der ihm sein Geheimnis aufdrängen wollte, jetzt gegenüber, der stutzte, schief lächelnd, der kahle Kopf
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