Das Blutgericht
ein wenig unwohl: ein bisschen wie ein Vater, der es gewohnt war, ohne Ankündigung das Zimmer seiner jungen Tochter zu betreten – bis zu dem Tag, an dem ihm plötzlich klarwird: Sie ist kein Kind mehr. Sie ist ein Frau, die ich gar nicht wiedererkenne. Danach klopft er immer an, drückt sich auf der Türschwelle herum, lehnt das Angebot hereinzukommen ab und trollt sich dann schnell wieder.
»Was möchten Sie gerne wissen?«
»Ihre Halskette«, sagte ich, »mir ist aufgefallen, dass Sie sie nicht mehr tragen.«
Ihre Hand wanderte zum Hals und flatterte dort herum wie der Flügel eines Schmetterlings.
»Ich habe Fotos von Ihnen gesehen. Sie trugen ein kleines Kreuz an einer Kette.«
»Die Halskette meiner Mutter«, erklärte sie. Ich meinte zu erkennen, dass sich ihr Blick kurz verdüsterte.
»Sie tragen sie nicht mehr?«
»Nein«, antwortete sie, »sie ist gerissen.«
»Konnte man sie nicht mehr reparieren?«
»Ich … ich habe sie nicht mehr.«
Sie wollte nicht darüber reden. Wahrscheinlich hatte sie sie im Tumult der Explosion und Flucht verloren. Sie verdrängte die Vorkommnisse und wollte nicht daran erinnert werden. Schnell wechselte ich das Thema. »Sie sind hier nicht sicher, ist Ihnen das klar?«
»Ich gehe nicht ohne Bradley.«
»Bradley kann mit uns kommen, aber ich halte es für sicherer, Sie an einen Ort zu bringen, der nicht mit der Familie Jorgenson in Verbindung gebracht werden kann.«
»Nicht nach Hause.«
»Nein, Marianne, nicht nach Hause. Irgendwohin, wo Sie keiner kennt.«
»Warum ist dieser Mann hinter uns her?«, fragte sie.
»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.« Ich fragte mich, ob ich sie über meine Mutmaßungen aufklären sollte. Ich entschied, dass sie das Recht hatte, etwas zu erfahren. »Es heißt, dass es nicht allen Jorgensons gefällt, dass Bradley zum Alleinerben des Unternehmens bestimmt wurde.«
»Es ist alles rechtens«, sagte Marianne. »Sein Vater hat es ihm übergeben, als er wusste, dass er zu krank war, das Geschäft weiterzuführen, genau wie dessen Vater vor ihm.«
»Damit habe ich kein Problem. Aber soweit ich weiß, hat sein Vater zwei Brüder. Auch sie haben Kinder. Sie glauben, dass sie genauso Anteil am Aufbau des Familienimperiums hatten wie Bradley. Sie sind der Meinung, dass das Unternehmen unter ihnen aufgeteilt werden sollte.«
»Ich kenne seine Cousins. Jack und Simon sind Brüder. Dann gibt es noch Petre, er ist der Älteste. Das sind alles anständige Männer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Bradley oder mir etwas Böses wollen.«
»Neid und Eifersucht unter Familienmitgliedern sind nichts Neues. Unter der Oberfläche kann selbst bei sich noch so nahestehenden Brüdern ein tief sitzender Hass brodeln. Manchmal bleibt er das ganze Leben lang im Verborgenen, und die betreffende Person nimmt ihn mit ins Grab. Und manchmal bricht er aus und führt zu Mord und Totschlag. Besonders wenn riesige Geldsummen im Spiel sind.«
»Und wer ist Ihrer Meinung nach verantwortlich dafür?«
»Jeder von denen könnte es sein. Oder alle zusammen«, sagte ich. »Vielleicht täuschen wir uns auch, und es ist keiner von ihnen. Aber davon mal abgesehen gibt es einen Mann, der versucht hat, Sie und Bradley zu töten. Und er wird es wieder versuchen.«
»Als er letzte Nacht ins Haus eindrang, hat er Bradleys Vater erschossen. Er wusste nicht, wer Valentin war. Das macht nicht den Eindruck, als ob er für ein Familienmitglied arbeiten würde.«
»Vielleicht wusste er es«, deutete ich an, »aber es war ihm egal.«
»Aber warum sollte er den Mann töten, um dessen Vermögen es geht? Dadurch fällt das Erbe ja nur umso schneller in Bradleys Schoß.«
»Gutes Argument«, gab ich zu. »Vielleicht hat der Killer auch gar nichts mit Bradleys Familie zu tun. Vielleicht hat das alles überhaupt nichts mit Erbstreitigkeiten zu tun. Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, der Interesse daran haben könnte, dass Sie beide sterben?«
»Nein«, sagte sie, aber ich erkannte, dass das nicht die Wahrheit war. Das sagte mir schon die Art und Weise, wie ihre Finger an ihrem Hals Trost bei dem nicht mehr vorhandenen Kruzifix suchten.
20
Dantalion stand unter der gleichen Brücke am gleichen Strand, aber die Familie mit dem krabbengeschädigten Kind war schon lange verschwunden. Die Sonne war nur noch ein blutiger Strich am westlichen Horizont. Im Osten glitzerten die ersten Sterne am purpurnen Abendhimmel. Über ihm war der Himmel von braungelber Farbe: Der Tag kämpfte
Weitere Kostenlose Bücher