Das Blutschwert
Sonne.
Sanno war ein gütiger Gott, barmherzig und großzügig. Er schenkte seinem Volk klare Bergquellen, aus denen es trinken konnte, Hasen und andere Tiere, um sich zu nähren, Holz, um sich Häuser zu bauen und sich zu wärmen. Und er schenkte ihnen die Burg des Eu-jiwara-Clans, die sich am Fuße des Berges Hiei erhob. Er kannte all ihre Bedürfnisse, und er gab ihnen alles, was sie brauchten.
So wandelte er also in Erwartung eines strahlenden Morgens in Gesellschaft jener, die ihn liebten und anbeteten. Aber an diesem verschneiten Wintermorgen ließ sich keiner von ihnen an seinem Schrein sehen.
Verärgert erstieg Sanno wieder den Berg Hiei, und mit seinem mächtigen Atem blies er die Wolken fort. Dann blickte er hinunter auf seine Länder und betrachtete sein Volk, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Berges versammelt hatte und vor dem Eingang eines neu errichteten Tempels mit seltsam geschwungenem Dach kniete. Einige der Frauen weinten und zerrissen ihre Kleider. Ihre Männer, Bauern, lagen bäuchlings auf dem Boden und vergruben ihre Gesichter im Schlamm.
Links von der jammernden Menge saßen die Mitglieder der örtlichen Adelsfamilie auf weißen Bastmatten. Sie trugen prächtige Kimonos mit dem Halbmond des Fujiwara-Clans und saßen bewegungslos wie Statuen da, stumm und bleich vor Kummer. Sanno kannte sie gut. Er sah Ehemann, Ehefrau und Sohn, aber nicht ihre wunderschöne Tochter Gemmyo, benannt nach der Kaiserin, die vor über siebzig Jahren das Reich regiert hatte.
In der letzten Zeit hatte Sanno darüber nachgedacht, ob er Gem-myo heiraten sollte. Hatten Götter nicht auch all das Glück verdient, das den Sterblichen zuteil wurde? Sie war nicht nur die schönste Jungfrau in der Umgebung des Berges, sondern auch die freundlichste. Außerdem verstand sie sich auf Musik und Gesang. In vielen Nächten hatte er die Erde heftig erbeben lassen, während er zu den lieblichen Melodien ihres Koto getanzt hatte.
Er stieg wieder zur Erde hinab und wandelte inmitten seiner Anhängerschaft, um nach Gemmyo und dem Grund für all dieses Leid zu suchen.
Als sie seiner gewahr wurden, sahen sich die Dorfbewohner und Edlen verstohlen an. Mit roten Augen und bebendem Kinn wichen sie zurück und machten eine Gasse für ihn frei, durch die er sich dem Eingang des neuen, fremdartigen Tempels näherte.
In dem Gebäude, unter einem mit Sternen bestickten Baldachin und auf einer Bahre aus rotem Samt, lag seine Geliebte. Ihre Augen waren geschlossen, als würde sie ruhen. Sie trug einen wunderschönen weißen Kimono, der mit Reihermotiven bestickt war. Auf den ersten Blick glaubte Sanno, sie schliefe, obwohl ihr Leib wachsweiß war. Doch es war nicht ungewöhnlich, dass sich Frauen zu besonderen Anlässen mit elfenbeinfarbener Schminke schmückten.
Erst als er genauer hinsah, entdeckte der König der Berge die zwei klaffenden Wunden an ihrem Hals, aus denen Blut auf die Falten ihres Gewandes getropft war.
Er hielt den Atem an, als er erkannte, dass sie auf heimtückische Weise von dem bösesten aller Dämonen ermordet worden war: einem Vampir.
In seinen Augen loderte unkontrollierbarer Zorn. Seine Halsschlagader pulsierte vor Wut. Blitz und Donner zuckten und grollten am Himmel, und rasch zogen Sturmwolken auf. Die Erde schwankte wie der Rücken eines Drachen, der aus seinem Schlummer gerissen wurde.
Sanno fuhr zu den Dörflern herum, die vor Entsetzen erstarrt waren, und donnerte: »Wer hat das getan?« Niemand antwortete.
Er stampfte mit dem Fuß auf, und die Erde spaltete sich. »Wer hat das getan?«, donnerte er wieder. Die Dörfler blieben stumm.
Dann, als sich Sanno anschickte, die Erde unter seinen Füßen zu zermalmen, trat unsicheren Schrittes ein verhutzelter alter Mann vor. Obwohl es kalt war, trug er keine Schuhe, und sein Mantel war aus Stroh. Sanno erkannte ihn. Es war Genp, ein armer Bauer, dessen Frau ihm der Tod entrissen hatte. Ohne Kinder, die ihn in seinem hohen Alter unterstützen konnten, kam er oft zu Sannos Schrein, um dort zu beten.
Der alte Mann hob eine zitternde Hand und sagte: »Sanno-no-kami, diese feigen Dörfler schweigen, weil Gemmyos Mörder gedroht hat, sie zu töten, wenn sie seinen Namen verraten. Aber ich bin sehr alt und habe in meinen letzten Jahren oft um Glück gebetet. Jetzt sehe ich, dass meine Gebete erhört wurden, denn ich, und nur ich, wage es, Euren Feind herauszufordern. Wenn ich mein Leben opfern muss, um Euch seine Identität zu enthüllen, dann werde
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