Das Blutschwert
zurückhaltender als ein Amerikaner und, wie er hoffte, weniger forsch und ungeduldig war. Zumindest war er so bei seiner Ankunft in Sunnydale gewesen.
Aber wenn man den Großteil seiner Zeit in der Gesellschaft von Amerikanern, um genauer zu sein, von südkalifornischen Teenagern, verbrachte, konnte man nicht davon ausgehen, dass die eigenen kulturellen Wert- und Verhaltensmuster noch völlig intakt waren. Schließlich hatte ihn vor kurzem sogar der sarkastische junge Xander einen »coolen Typen« genannt. Und das war nicht nur ironisch gemeint gewesen.
»Vielen Dank, sensei«, sagte er und benutzte das japanische Wort für »Lehrer«, den höchsten Ehrentitel, den es in dieser Sprache gibt, wenn man einmal von den Anreden für die Götter und den Kaiser absieht. Außerdem war es ein zutreffender Titel, denn Professor Kobo lehrte an der Universität von Tokio.
»Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie zu dieser frühen Stunde geweckt habe, aber die Angelegenheit ist äußerst dringlich, und ich hoffte, dass Sie vielleicht in der Lage sind, gewisse Fragen zu beantworten, für die ich in meinen Unterlagen keine befriedigende Erklärung finde.«
Für ein paar Sekunden herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. Ohne das Knistern und Knacken hätte Giles geglaubt, die Verbindung sei unterbrochen worden. Als der Professor schließlich sprach, waren seine Worte eine große Überraschung.
»Ich habe Ihre Großmutter gekannt«, sagte der alte Japaner.
»Meine.«
»Sie war die größte Wächterin, die es je gab«, fuhr Kobo fort.
»Das ist überaus freundlich von Ihnen«, sagte Giles leicht verwirrt. »Sie sprach auch stets sehr anerkennend von Ihnen, sensei. Sie sagte oft, alles, was sie wüsste, hätte sie von Ihnen gelernt.«
»Ach nein, in Wirklichkeit war sie die Lehrerin, Professor Giles. Ihre Großmutter war bereits eine Wächterin, als ich sie kennen lernte«, erwiderte Kobo. »Es ist mir eine Ehre, Ihnen meine bescheidenen Dienste zur Verfügung zu stellen.«
Giles schob seine Brille hoch und stützte sich auf den Ellbogen, während er auf die Bücherstapel auf seinem Schreibtisch deutete, obwohl er wusste, dass sein Gesprächspartner sie nicht sehen konnte.
»Nun, um ehrlich zu sein, ich hatte bisher nur wenig Gelegenheit, die fragliche Angelegenheit näher zu untersuchen. Im Moment versuche ich noch immer, eine Hypothese aufzustellen.«
Giles berichtete dem emeritierten Wächter von den bisherigen Ereignissen in Sunnydale, dem Verhalten der Vampire, die Buffy aufgelauert hatten, den Geschehnissen in dem Museum und von Willows und Xanders Verschwinden. Da er seit ihrem letzten Treffen nichts mehr von Buffy und Cordelia gehört hatte, musste er annehmen, dass irgendetwas vor sich ging. Angesichts der Tatsache, dass Buffy die Jägerin war und sie alle auf dem Höllenschlund lebten, war das eine durchaus berechtigte Annahme.
»Falls Sie irgendetwas über diese Gottheit Sanno wissen, könnte es mir vielleicht weiterhelfen«, sagte Giles. »Allerdings bin ich ein wenig verwirrt, denn ich habe in den japanischen Legenden nicht die geringsten Hinweise auf Vampire gefunden.«
»Verzeihen Sie mir bitte, Giles-sensei. Obwohl ich sicher bin, dass Ihre Nachforschungen erschöpfend waren, kann ich nur vermuten, dass die Texte, die Sie konsultiert haben, unglücklicherweise unvollständig waren. Die Wahrheit ist, dass es in den japanischen Legenden - wenn überhaupt - nur sehr wenige japanische Vampire gibt«, erklärte der alte Mann. Giles musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen, da die Verbindung so schlecht war. »In unseren Geschichten werden Vampire gewöhnlich als Chinesen dargestellt, eine Folge der historischen Rivalität zwischen unseren beiden Nationen.«
»Ich verstehe«, antwortete Giles vorsichtig. Er wollte den Professor nicht dazu zwingen, näher auf die schmerzhafte Geschichte seiner Nation einzugehen.
»Im Altertum waren die meisten von ihnen wahrscheinlich Chinesen«, fuhr Kobo fort. »China war eine höher entwickelte Nation, und Untote wurden dort eher entdeckt und zur Strecke gebracht. Japan muss den chinesischen Vampiren damals wie ein sicherer Hafen erschienen sein.«
»Eine exzellente Schlussfolgerung«, kommentierte Giles.
»Ich fühle mich geehrt.« Der alte Mann räusperte sich. »Was Sanno betrifft - wenn damit der Bergkönig aus den Legenden gemeint ist, die ich kenne, dann ist er mir als Oyamagui no kami geläufig. Ich bin sicher, dass er noch andere Namen hat. Es ist
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