Das boese Blut der Donna Luna
Leben kam, sie hatte das Mädchen geboren, dann hatten sie die Leiche gefunden, und sie – vielleicht hatte sich in dieser Situation noch eine postnatale Depression hinzugesellt – hatte sich umgebracht. Palmieri hatte von manisch depressiven Krisen gesprochen, hm. Jedenfalls hatte der junge Alessandro den Mut gehabt, mit einem Neugeborenen fortzugehen und es aufzuziehen. Was war denn da so merkwürdig dran? Der Mann war ständig in Bewegung gewesen, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Zuerst blutjung während des Studiums, und dann hatte seine Karriere ihn in der Welt herumkommen lassen.
Anfangs wird er sich ein Kindermädchen genommen haben, dann hat er die kleine Schwester vielleicht in ein Internat gesteckt oder sie einer Privatlehrerin anvertraut. An den nötigen Mittel hat es schließlich nicht gemangelt. Nelly versuchte sich vorzustellen, wie sich ein Junge in Maus Alter gefühlt haben muss, von einem auf den anderen Tag alleingelassen, mit einem Neugeborenen auf dem Arm. Autsch! Das erinnerte sie daran, dass Mau womöglich auch bald ein Neugeborenes schuckeln müsste, und sie verdrehte die Augen.
Doch Hut ab vor Alessandro, der sich nicht hatte entmutigen lassen und seinen Bruderpflichten nachgekommen war. Das ließ ihn in ihrer Gunst ein kleines bisschen steigen. Wer weiß, wo diese Giacinta Palmieri jetzt war, sie musste ungefähr ... Nelly rechnete kurz, sechsundzwanzig sein. Auch darüber hatte sich Valeria schlau gemacht, und beim Lesen der folgenden Zeilen hielt Nelly die Luft an. Denn Giacinta Palmieri war nie sechsundzwanzig geworden. Sie war tot, vor fünf Jahren in Amerika ermordet. Keine weiteren Einzelheiten.
Damals lebte sie in Philadelphia und studierte Musik am dortigen Konservatorium. Welches Instrument, stand nicht da. Sie war als Kind mit dem Bruder in die Staaten gegangen und dort geblieben, bis sie das Gymnasium beendet hatte. Dort hatte auch Alessandros fulminante Kriminologenkarriere begonnen, doch nach dem tragischen Ende der Schwester – schon wieder ein tragisches Ende, wie das der Eltern. Nicht zu fassen, Alessandro ist echt vom Unglück verfolgt! – hatte er den Lehrstuhl in Mailand angenommen. Dazu hielt er Vorlesungen an der Uni Bern, wo man einen Master in Kriminologie machen konnte. Er wohnte in Lugano und kehrte nur noch geschäftlich nach Amerika zurück.
Ihre Zweifel an dem Mann, für dessen Mitarbeit in Genua sie sich so nachdrücklich eingesetzt hatte, wurden schier erdrückend. Auch das Stimmchen fing wieder wie besessen an zu flüstern. Und wenn er Simba wäre? Wenn er Simba wäre? Wie ist die Schwester ums Leben gekommen? Ihr wird doch wohl nicht zufällig der Kopf gefehlt haben? – Ich muss Valeria sagen, dass sie da nachhaken soll, o Himmel. Verärgert über ihre letztlich irrationale Reaktion, versuchte Nelly wieder auf den Teppich zu kommen. Welchen Grund gab es dafür, diesem Mann zu misstrauen, ihn gar zu verdächtigen? Zur Zeit der Morde war er im Ausland gewesen ( war er im Ausland gewesen? Valeria sollte auch das, wenn möglich, überprüfen), hatte keinerlei Verbindung zu »Mani amiche«, wo sich die Opfer getroffen hatten, hatte seine Mutter offenbar geliebt und ein Mädchen großgezogen, das in Amerika ein tragisches Ende gefunden hatte. Er hatte eine große (unglückliche, unselige?) Liebe, das hatte er ihr selbst während des berühmten Abendessens in Sant’Apollinare gestanden. Er war nie verheiratet gewesen, schien Frauen gegenüber jedoch nicht verklemmt oder schüchtern zu sein und wirkte auch nicht sonderlich aggressiv. Basta, hör auf damit, Nelly. Du übertreibst.
Sie las die detaillierten Angaben zu Palmieris Karriere zu Ende, die Valeria peinlich genau zusammengetragen hatte, dann legte sie den Kopf zurück und ließ mit geschlossenen Augen die Informationen der letzten beiden Tage Revue passieren. Bislang gab es bei »Mani amiche« drei mögliche Verdächtige, Don Silvano, den Anwalt Manara und den jungen Zanni. Nelly schloss grundsätzlich nichts und niemanden von vornherein aus. Don Silvano war ein auf seinem Gebiet erfolgreicher Mann, okay, ein Geistlicher, doch er hatte ihr die äußerst seltsame Koinzidenz vorenthalten, dass sämtliche Opfer mit seinem Verein und mit ihm zu tun gehabt hatten. War das wirklich nur Angst vor schlechter Publicity? Heiliger hin oder her, er war trotzdem nur ein Mensch, hätte Gerolamo gesagt.
Dann Manara, diese hagere, blinde und kirchenfromme Ratte, nichts als Heim, Büro und
Weitere Kostenlose Bücher