Das boese Blut der Donna Luna
pochten. Schließlich klingelte sie, die Tür ging auf, und Nelly stieg langsam die Treppen hinauf. Die Wohnungstür stand offen. Drinnen war nichts zu hören.
»Madame Claire, sind Sie da? Ich bin’s, Commissario Rosso ...«
Reglos wie in ihrem Traum saß Madame mit dem Rücken zu ihr auf dem Sofa.
»Herein, Commissario. Aber heute Nacht hast du mich geduzt.«
Nellys Herz setzte einen Schlag aus und fing dann wie verrückt an zu rasen. Sie versuchte sich zu fassen und wartete, bis sie meinte, wieder normal reden zu können. Doch kam ihr nicht das über die Lippen, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Stattdessen entfuhr es ihr zu ihrer eigenen Überraschung:
»Das heute Nacht war eine besondere Situation. Ein besonderer Ort.«
»Das stimmt. Ein Ort, an dem sich die Seelen der Lebenden und der Toten treffen. Ich war überrascht, dich dort zu sehen. Ich hatte dich nicht gerufen.«
Nelly konnte Madames Gesichtsausdruck nicht sehen.
»Ich war nicht weniger überrascht. Du ... hast du sie gerufen? Paulette und Malina?«
»Sie haben mich gerufen. Und dich. Das bedeutet, dass wir zusammenarbeiten müssen, Commissario. Sie wollen es so.«
»Haben sie etwas ... gesagt?«
Nelly ließ sich wie ein Sack neben Madame Claire auf das Sofa fallen. Sie suchte ihre Augen, ihren Blick, den die schwarze Frau starr geradeaus gerichtet hielt. Schließlich drehte sie sich zu ihr um, und ihre Augen trafen sich, Claires ruhig und gelassen, Nellys vor Aufregung weit aufgerissen.
»Es war keine Rache aus geschäftlichen Gründen oder dergleichen. So viel hat mich ihre Gegenwart spüren lassen. Es war tatsächlich ein Simba, ein Löwenmensch, ein von einem Löwen gebissener Mensch, der sich selbst in einen Löwen verwandelt hat, in eine heillose Bestie. Und er ist mit dem Töten noch nicht fertig. Er ist da draußen, sucht andere Opfer. Andere Trophäen. Wir müssen ihn stoppen.«
»Das ist leicht gesagt«, entgegnete Nelly. »Aber wo finden wir ihn? Können Paulette und Malina uns nicht helfen?«
Sofort biss sie sich auf die Zunge. Wie konnte sie nur so einen Schwachsinn reden, sie war noch nie für übersinnliche oder übernatürliche Phänomene empfänglich gewesen, hatte stets darüber gelacht, wenn bei Ermittlungen um vermisste Personen ein Medium zu Rate gezogen wurde. Das mochte in einem Film oder einem Buch ganz unterhaltsam sein, aber im wirklichen Leben ... Humbug!
»Du hast Fähigkeiten, von denen du selbst nichts ahnst«, sagte Claire, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Sonst wärst du heute Nacht nicht an jenen Ort gekommen, wo die Welten sich berühren. Irgendetwas oder irgendjemand hat unseren Kontakt unterbrochen.«
Nelly war verblüfft. »Mein Sohn ist nach Hause gekommen«, sagte sie zögernd. »Er hat mich geweckt.«
»Richtig, richtig, so war’s. Es wird schwierig, die Botschaften zu entschlüsseln, sie sind doppeldeutig. Klar ist nur der Schmerz um den vorzeitigen Verlust des Lebens.«
»Bist du ein ... Medium?«
»Ja. Ich habe besondere Fähigkeiten. Aber sie sind nicht immer hilfreich. Manchmal wäre es besser, sie nicht zu haben. Sie können eine Last sein«, schloss sie seufzend und blickte Nelly mit großen, ausdrucksvollen Augen an. Die Kommissarin empfand eine tiefe Sympathie für Claire, etwas wie Hochachtung und Freundschaft, und fragte sich, ob ihre Gefühle erwidert wurden.
»Achte auf den Mond«, fügte Claire im Aufstehen hinzu.
»Was meinst du?«
»Die Jagdphasen. Achte auf den Mond.«
Das Gespräch war beendet, so viel war klar. Ohne ein weiteres Wort verschwand die Afrikanerin hinter dem Vorhang, der den Rest der Wohnung abschirmte und hinter dem Kinderstimmen zu hören waren.
Völlig benommen fand sich Nelly vor der Haustür in der Via del Campo wieder, stand minutenlang da und blickte unschlüssig nach rechts und links. Schließlich gab sie sich einen Ruck und setzte sich Richtung Porto Antico in Bewegung. Am alten Hafen angelangt, ließ sie sich auf eine Bank fallen, saß eine Weile reglos da und betrachtete die vorübergehenden Passanten, die segelnden Möwen, Kähne und Boote, die von den Molen ablegten. Dann öffnete sie den Blick und sah auf die Stadt, die sich im Halbrund an die Berge schmiegte. Allmählich fühlte sie sich besser und zog den Terminkalender hervor, um zu tun, was Claire ihr geraten hatte, und die Mondphasen zu überprüfen.
Das erste Verbrechen war bei zunehmendem Mond verübt worden, und zwar genau in der Nacht vor dem ersten Viertel. Der Nacht von
Weitere Kostenlose Bücher