Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
Aufnahmelehrer hatte er die Begleitakte herausgenommen. Überrascht stellte er fest, wie schwer sie war, und nahm sie von einer Hand in die andere, bevor er sie öffnete. Es war schon immer sein Grundsatz gewesen, die Briefe zu ignorieren, die den Bewerbungen der Kinder beigegeben waren. Lieber hatte er das Kind nach seinen Leistungen an diesem Tag beurteilt, statt sich von der überzeugenden Prosa einer guten V orschullehrerin umstimmen oder sich durch die Unerfahrenheit eines innerstädtischen Grundschullehrers gegenüber einem Kind mit einem weniger privilegierten Background einnehmen zu lassen. Aber das Gewicht von Kellaways Akte ließ vermuten, dass sie mehr als die übliche Zeugnissammlung und ein Empfehlungsschreiben enthielt.
Das erste Blatt hatte das Siegel des Jugendamts der Stadt Saxby getragen. Rowan hatte sich um Neutralität bemüht, als er die Elendsgeschichte des Jungen las. Sie glich der Zusammenfassung eines Dickens-Romans. Kellaway lebte allein mit seiner Mutter, einer altgedienten Kundin des Sozialamts, und erhielt von ihr häuslichen Unterricht. Mit einundzwanzig hatte Heather Kellaway sechs Monate in einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Oxford verbracht. Sie hatte dort an der Universität englische Literatur studiert, und ihre beiden Eltern waren Dozenten gewesen. Ihr Tutor war beschuldigt worden, sie vergewaltigt zu haben, man hatte ihn vor Gericht gestellt und freigesprochen, und daraufhin hatte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Ihre Eltern hatten nichts mehr von ihr wissen wollen. Auf der Universität hatte sie bleiben dürfen, aber sie legte kein Examen ab: Achteinhalb Monate nach der angeblichen V ergewaltigung wurde Darcy geboren. Heather war mit dem Säugling einem entfernten V erwandten nach Saxby gefolgt, und dieser war seitdem kaum von ihrer Seite gewichen. Der Junge wurde als intelligent beschrieben; er habe das Lektürealter eines Achtzehnjährigen, sei aber nervös und introvertiert und mehr als andere Kinder abhängig von der Mutter. Jemand hatte an den Rand gekritzelt: » Und umgekehrt– womöglich Status des pflegenden Kindes?«
Jetzt schmerzte Rowan die Erinnerung daran, wie er die Akte geschlossen und die Bibliothek verlassen hatte, ohne seine Meinung zu ändern. Er hatte Mitgefühl für den Jungen empfunden, selbstverständlich, aber was hätte er tun sollen? Auch nach dem Angriff auf Felix hatte Rowan es nicht bereut, fest am Grundsatz der Meritokratie festgehalten zu haben. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass Gefühle dabei nicht ins Spiel kommen dürften, denn sonst könnte man eine Prüfung auch nach den Manieren eines Schülers benoten statt aufgrund seiner Fähigkeiten. Halb war er sogar davon überzeugt, dass er das Richtige getan hatte, als er die Bewerbung abgelehnt hatte. W enn die Schule Kellaway aufgenommen hätte, wäre sie dann fähig gewesen, ihn zu zähmen, oder hätte er sich als zerstörerische Kraft innerhalb der Anstalt erwiesen? Das war unmöglich zu sagen, und rückblickend wusste man immer alles besser.
Die Tatsache blieb bestehen, dass das Mawson-Luxmore-Stipendium des Jahres 1997 an das Kind mit den besten Leistungen vergeben worden war. Arthur Li war ein Geigenvirtuose gewesen, ein instinktbegabter Musiker, wie man ihn in einer ganzen Generation nur einmal fand. Er hatte das Stipendium verdient. Eine schlafende Erinnerung wurde geweckt: Arthur Li hatte die Cath zwei Jahre nach seinem Eintritt verlassen und war auf ein Konservatorium gegangen. Zurzeit gehörte er dem Birmingham Symphonie Orchestra an. Er wäre überall erfolgreich gewesen.
Jetzt war sein Enkel ein Mörder, die W elt seiner Kinder lag in Trümmern, und Rowan empfand bittere Reue. Er drehte sich auf die Seite. Das alte Bett bebte, und sie rollte ihm entgegen, wie sie es im Leben getan hatte, aber das weiche, warme Fleisch, das ihn immer in den Schlaf gelullt hatte, war jetzt eingekapselt, klein und kalt und hart. Er drückte die kühle Urne an die Lippen und fühlte den nichtssagenden Kuss von Metall.
» Ach Lydia«, sagte er, » was haben wir getan?«
Es war das erste Mal, dass er vor ihr weinte.
SIEBENUNDFÜNFZIG
Montag, 4. November 2013
Rowan schrak ruckartig und mit klopfendem Herzen hoch, nachdem er weniger als zwei Stunden geschlafen hatte. Kaum waren seine Augen offen, stürzte er sich auf die scharfkantigen Scherben dessen, was geschehen war. W ar er wirklich der Mann, der seiner Familie befohlen hatte, den Tod eines Menschen vor der W elt zu
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