Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
ihr hinüber, als sie sie fütterte. Edie hob die Hand zu ihrem Gesicht, griff nach einer herabhängenden Locke und zog daran.
Davor hätte ich sie warnen sollen, dachte Sophie, die daran gewöhnt war, Büschel ihres eigenen Haars in den Händen ihrer Tochter verschwinden zu sehen, aber sie lächelte, als sie sah, dass Edie versuchte, Kerrys Haar hinter ihr Ohr zu schieben, wie Sophie es selbst trug.
Einen winzigen Augenblick lang waren Kerrys Hals und ihre Ohren entblößt. Ihre beiden Ohrläppchen waren verstümmelt und hingen wie weiches Wachs zu beiden Seiten einer senkrechten Narbe herunter. Das Bild, wie jemand ein Paar Ohrringe so schnell und brutal abriss, dass er das Fleisch zerfetzte, war unentrinnbar. Automatisch legte Sophie die Hände an ihre eigenen Ohrläppchen, wie um sie zu schützen. Kerry sah es und schlang ihr Haar wie einen Schal um ihren Hals. Obwohl sie es nur zufällig gesehen hatte, überkam Sophie das schuldbewusste Gefühl, einen schrecklichen Übergriff begangen zu haben. Sie blickte am Tisch auf und ab, aber niemand schaute zu ihnen beiden her. Sie wollte Kerry zulächeln und ihr zu verstehen geben, dass sie ihr Geheimnis nicht verraten würde, aber Kerry schaute unverwandt auf ihren leeren Teller. Du armes Mädchen, dachte Sophie. Vielleicht hast du mehr mit Felix gemeinsam, als wir ahnen.
SECHS
Das Volksfest der brennenden Teerfässer war ein Brauch, den die MacBrides in ihr Herz geschlossen hatten, aber der Tag des Holzsammelns war eine Tradition, die sie selbst geschaffen hatten. Nach dem Frühstück wurde der Holzschuppen geleert und das Holz für das große Feuer im Garten aufgestapelt. Danach zog die Familie mit ihren Körben los, um in der Umgebung Fallholz zu sammeln, das für das folgende Jahr im Schuppen gelagert wurde. In der Abenddämmerung wurden die Guy-Fawkes-Puppen oben auf den Scheiterhaufen gelegt, bevor das Ganze angezündet wurde. Es war eine ziemlich naive, kindliche Tradition, entstanden, als Sophie noch klein war, und nie aufgegeben– vielleicht, weil es zwischen der Kindheit der Geschwister MacBride und der Zeit, da sie selbst Kinder hatten, keine Lücke gegeben hatte. Diese Routine wurde nur in solchen Jahren unterbrochen, in denen die Witterung ein Guy-Fawkes-Feuer unmöglich gemacht hatte, aber an diesem Wochenende hatten sie gutes, trockenes Wetter.
In früheren Jahren hatte Lydia die Guys gemacht, aus Kleidern, die so verschlissen waren, dass selbst die MacBrides davor zurückschreckten, sie aufzutragen. Niemand machte Sophie diese Aufgabe streitig, und sie blieb gern im Haus zurück, während Edie ihren Mittagsschlaf hielt. Vom oberen Fenster aus sah sie zu, wie sie durch den ansteigenden Garten hinaufspazierten und über den Zaunübertritt in den Wald dahinter wanderten, jeder mit seinem eigenen Korb, sogar die Kleinen.
Im Schlafzimmer ihrer Eltern– ihres Vaters – standen zwei nicht zusammenpassende Kiefernholzkleiderschränke an der hinteren Wand. In dem einen waren Rowans und Lydias Sachen, und in dem anderen sah es aus wie im Hinterzimmer eines Wohltätigkeitsladens in der Woche nach Weihnachten. Er war vollgestopft mit zu klein gewordenen oder vergessenen Kleidungsstücken und überzähligen Sachen in verschiedenen Größen, von Gästen zurückgelassen und aufbewahrt für Besucher, die nicht wussten, wie man sich für einen Aufenthalt auf dem Land anzog. Die Oberkanten dieser Schränke berührten die schräge Decke, und der dreieckige Raum dahinter war ebenfalls voll von Koffern und Reisetaschen mit Kleidern. Sie wühlte entspannt in alldem herum, und jedes einzelne Söckchen, jede durchlöcherte Jeans weckte Erinnerungen an kleine Jungen mit weißblonden Haaren.
Sophie hörte ein Geräusch auf dem Treppenabsatz und ging auf Zehenspitzen durch den Korridor zu ihrem eigenen Schlafzimmer, wo Edie in dem Reisebettchen schlief, das Will am Morgen aufgestellt hatte. Die Vorhänge waren geschlossen; es war zwielichtig, aber nicht dunkel im Zimmer. Trotzdem brauchte Sophie ein paar Augenblicke, um zu erkennen, dass die schemenhaft graue Gestalt, die an Edies Bettchen stand, Kerry war. Was machte sie da? Als Sophies Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten und das Zimmer Gestalt annahm, sah sie, wie Kerry sich bückte und den Stoffhasen neben dem Bettchen aufhob. Sie legte das Spielzeug neben das schlafende Baby und stand ein paar Sekunden lang mit einem so zärtlichen Gesichtsausdruck da, dass Sophie sich vorkam wie eine Voyeurin. Wenn ich sie
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