Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
dich nach der Stellung deiner Zähne beurteilt, ist nicht jemand, dessen Beifall du nötig hast. Dein Intellekt, die Worte, die du hinterlässt, das ist es, was dich zu dem macht, was du bist.«
An dieser Stelle kamen mir dann immer die Tränen. » Du hattest als Teenager auch eine Zahnspange.«
Sie streichelte mir die Wange. » Ja, das stimmt. Ich war eine schöne junge Frau, und sieh nur, wohin es mich gebracht hat.« Dann fixierte sie mich mit einem Blick, der keine Debatte mehr zuließ, und schwieg abweisend. Meine Mutter verfügte über ein Repertoire von Schweigevariationen, mit dem sie das komplette Vokabular mancher Leute in den Schatten stellte. Die subtilen Unterschiede zwischen der geselligen Ruhe, mit der wir den größten Teil unserer Tage verbrachten, und der strafenden Eiseskälte, die eintrat, wenn ich faul oder träge gewesen war, konnte nur ich wahrnehmen. Ihre wortlosen Wutanfälle konnte ich ihr kaum verdenken. Andere Mütter, geringere Frauen, hätten mir die Umstände meiner Geburt vielleicht zum Vorwurf gemacht, aber nicht sie. Ich habe nie etwas anderes als Liebe und Dankbarkeit empfunden, und sie hat mich nie ins Bett gebracht, ohne das Schweigen vorher zu beenden.
» Du hast mich gerettet«, sagte sie und strich mir über das Haar, während ich auf den Kissen einschlief, die nach uns rochen. » Als ich von dir erfuhr, warst du eine kleine Kerze in der Dunkelheit– nur dass deine Flamme niemals flackert, weißt du, sondern nur immer heller brennt. Du wirst großartig sein, Darcy. Als mir mein Leben… gestohlen wurde, einfach so, da dachte ich, es sei das Ende und ich würde niemals überragend sein, niemals meinen Stempel hinterlassen. Und als ich dich dann sah, verstand ich sofort: Durch dich können wir alles erreichen, Darcy. Du sollst mir nicht ebenbürtig werden, sondern besser .«
Ich war zwölf, als wir den ersten Auswahlprozess für das Stipendium bis zur Phase des Bewerbungsgesprächs absolvierten. Mein Platz auf der Cath wurde mir als Tatsache präsentiert, als Vollendung ihres Lebenswerks. Aber indem sie mich auf diese Schule drängte, zu dieser Familie, die ebenso ein Teil davon war wie die Grundpfeiler der Großen Halle, verkuppelte meine Mutter mich mit ihrer Mörderin.
DREIZEHN
Dezember 1996
Am Tag des Auswahlgesprächs holte Kenneth mich ab. Ich sollte ihn Onkel Kenneth nennen, aber er war kein richtiger Onkel, nicht mal ein Onkel meiner Mutter, sondern nur ein entfernter Cousin ihrerseits, der sich der Familie ebenfalls entfremdet hatte. Irgendwo in England gab es eine Exfrau und zwei erwachsene Kinder. Er hatte einmal zu oft gewettet, und danach war ein Haus verloren gewesen, und Kinder hatten in einem Sturm von Bitterkeit und Schmach ihre Schule verlassen müssen. Er gelobte oft, uns, seine zweite Familie, werde er niemals verlieren. Dabei sah er nicht, dass wir ihm eigentlich gar nicht gehörten und er uns schon deshalb nicht verlieren konnte. Wir beide gehörten nur einander.
Kenneth beaufsichtigte diejenigen Bereiche meines Unterrichts, in denen meine Mutter sich nicht auskannte. In den Naturwissenschaften war er ganz ordentlich, und er war ein inspirierender Mathematiklehrer. Sein ganzes Leben drehte sich um die praktische Anwendung der trockensten Theorien, und mithilfe komplexer algebraischer Formeln berechnete er die wahren Chancen hinter den Zahlen der Buchmacher. Sogar sein Apartment, eine Souterrainwohnung in der Stadtmitte, war von der Geometrie bestimmt: Sie war von allen drei Wettbüros der Stadt gleich weit entfernt, und Saxby selbst lag genau in der Mitte zwischen den drei Rennbahnen Cheltenham, Goodwood und Taunton.
Kenneth trug den tweedähnlichen grünen Blazer, den er selbst als Sportsakko bezeichnete, und dazu eine dunkelrote Krawatte. Ich war mir plötzlich meiner Hose und des weiten Hemds aus dem Secondhandladen bewusst. Es war das formellste Outfit, das ich besaß.
» Sehe ich okay aus?«, fragte ich.
» ›Das Kleid ist immer nur ein oberflächlicher Schmuck, und je mehr Kunst man darauf verwendet, umso eher verfehlt man sein Ziel‹«, sagte meine Mutter.– Ich weiß nicht, was andere Mütter tun, wenn sie nervös sind. Meine zitierte Jane Austen.– » Du gehst nicht auf eine Modenschau, und außerdem besteht die Chance, dass es sich für uns vorteilhaft auswirkt. Anscheinend geben sie es oft Kindern von materiell armer Herkunft. Vor ein paar Jahren war es ein Kind, das im Heim aufgewachsen war. Und bald trägst du ja Uniform, stell
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