Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
in die Kathedrale zu gehen und für meine Aufnahme in die Schule zu beten. Wir gingen nicht in die Kirche– obwohl wir natürlich eine King-James-Bibel als literarischen Text besaßen–, und das Ritual war mir nicht vertraut, aber ich kniete nieder, wenn ich sah, dass andere es taten. Als ich die Augen schloss, sah ich nicht das Gesicht Christi oder der Jungfrau, sondern das meiner Mutter, und sie lächelte.
VIERZEHN
Januar 1997
Der Brief kam erst nach einem Weihnachtsfest, das ich mit stabiler Zuversicht verbrachte. Wenn ich mir das Gespräch und die Prüfung durch den Kopf gehen ließ, konnte ich nie etwas daran aussetzen. In anderer Hinsicht war es kein gutes Fest gewesen. Am 22. Dezember war der Arzt gekommen und hatte seinen Pfefferminzatem mit Ratschlägen zu frischer Luft und Bewegung verschwendet, und er hatte meiner Mutter mitgeteilt, es sei wohl eine gute Idee, wenn sie ihn das nächste Mal in der Praxis aufsuchte. Sie schob das Rezept, das er ihr gab, zu den anderen: Sie klemmte es in die Lücke zwischen Emma und Überredung und sprach erst wieder am Weihnachtstag beim Mittagessen, als Kenneth mit einem Präsentkorb von John Lewis ankam, vor dem sie zurückzuckte.
Der Briefkasten beendete sein Schweigen schließlich am Nachmittag des 10. Januar. Der Umschlag war klein und dünn. Was wusste dieser Junge schon, sagte ich mir, als ich mich die Treppe hinaufquälte. Ich konnte nicht durchgefallen sein. Ich hatte mein Bestes gegeben. Es konnte nicht sein, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Das war undenkbar. Aber als meine Mutter las, wurden ihre Lippen dünn wie Rasierklingen.
» Das verstehe ich nicht«, sagte sie und reichte mir den Brief. Ich überflog ihn und las etwas über das hohe Niveau der Bewerbungen, bevor die Buchstaben mir vor den Augen verschwammen. » Du hast doch gesagt, es ging gut.«
» Das dachte ich ja auch!«, antwortete ich. Zunächst deutete ich ihr Schweigen als Zorn auf mich, aber es war eher eine kontemplative Stille. Draußen schleuderte jemand ein paar Flaschen an den Bordstein. Weiter weg schlug die Uhr der Kathedrale zur Viertelstunde.
» Nun, dann liegt da eben ein Irrtum vor«, sagte sie schließlich. » Natürlich bist du angenommen worden. Das ist dir bestimmt . Dieser… ›Rowan MacBride, Aufnahmelehrer‹«, sie spuckte die Anführungszeichen um Namen und Titel herum, » er hat dich offensichtlich mit jemand anderem verwechselt. Da muss ich wohl…« Sie sah das Telefon an, streckte die Hand aus und zuckte wieder zurück, als sei es heiß. Ich bin immer noch unsicher, ob das der Augenblick war, an dem ihre Agoraphobie sich auf ausgehende Telefonate erweiterte oder ob es da nur zum ersten Mal in meiner Anwesenheit bemerkbar war. Gleich darauf saß sie an ihrem Tisch und schrieb selbst einen Brief. Als er fertig war, gab sie ihn mir. » Ich bitte sie hier um eine Untersuchung, um festzustellen, wie es zu diesem Irrtum kommen konnte, und ich bitte sie, ihn zu korrigieren. Wohlgemerkt, es könnte ja sein, dass die Sekretärin dieses Rowan MacBride nur den falschen Namen auf den Brief geschrieben hat. Sei großzügig, zeig ihnen, wie gut erzogen du bist. Es wird furchtbar für den anderen Jungen oder das andere Mädchen sein. Er oder sie glaubt ja, er hätte einen Platz an der Schule bekommen. Aber was sollen wir machen?«
Ich zog den jammervollen, sinnlosen Weg in die Stadt so lang, wie es nur ging. Als ich endlich ankam, war es halb fünf, und Rowan MacBride kam aus der Schule, eingemummelt in einen dicken grauen Mantel und einen Schulschal. Ich sah, wie er nach rechts in die Cathedral Passage einbog, die schmale, überdachte Gasse zwischen der hohen Schulmauer und der Rückseite der Cathedral Terrace, einer langen Reihe von viergeschossigen Reihenhäusern aus dem gleichen ausgeblichenen goldbraunen Stein wie die Schule und die Kathedrale. Auf halber Strecke der Gasse war eine Lücke zwischen den Reihenhäusern, und er verschwand durch die rückwärtige Pforte des einen Endhauses.
Ich konnte ihm nicht gut folgen, und deshalb ging ich durch die Lücke an der Seite der Gasse und sah Cathedral Terrace vor mir. Sie war mit abgenutzten Steinplatten gepflastert, und die Straßenlaternen waren noch die originalen edwardianischen Exemplare. Ein von alten Platanen gesäumter Grasstreifen trennte die Häuser vom Straßenpflaster und der grünen Rasenfläche des Cathedral Green. Jeder der kleinen Vorgärten war geschmackvoll in eine kleine Einfahrt umgewandelt worden.
Er
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