Das Böse in dir
Abwesenheit bemerkenswert gefangen hatte. Er wirkte zwar noch etwas derangiert, doch zumindest hatte das Heulen und Zähneklappern aufgehört. Außerdem schwieg er. Vermutlich hatte er seine Instruktionen.
Mrs Murphy setzte sich neben ihn und bedeutete uns, auf dem identischen schneeweißen Sofa gegenüber Platz zu nehmen. Wir gehorchten. Als ich Bud mit meinem berühmten Übernimm-Du-Mal- Blick bedachte, tat er genau das.
»Ich bin Detective Bud Davis, Ma’am, und das hier ist meine Partnerin Claire Morgan.«
»Claire Morgan? Der Name kommt mir bekannt vor. Sind Sie dem Gouverneur zugeteilt?«
»Nein, Ma’am. Wir sind beide beim Sheriff’s Department von Canton County. Ich bin sicher, dass wir uns noch nie begegnet sind«, erwiderte ich, weil ich weder über mich noch über die elenden Zeitungsartikel reden wollte, die offenbar so großen Anklang gefunden hatten.
»Nein, vermutlich nicht.« Schließlich gehören Sie ja zum Dienstpersonal, beendete ich in Gedanken den Satz. Sie wandte sich wieder an Bud. Inzwischen waren ihre Hände in die ihres Mannes verschränkt, und sie tätschelte seinen linken Handrücken. Seine Hände zitterten. Ihre nicht. »Sie sagen, Mikey hätte sich erhängt. Sind Sie absolut sicher, dass es sich um Selbstmord handelt?«
Diese Frau steckte voller Überraschungen und war anscheinend immer für eine unerwartete Bemerkung gut, wenn sie nicht gerade Gastgeberin im Weißen Haus spielte. Trauernde Mutter schlägt wieder zu und stürzt Polizei in Verwirrung.
»Wie meine Partnerin bereits erklärt hat, macht es derzeit diesen Eindruck. Es könnte sich aber genauso gut als Tötungsdelikt erweisen. Wir wissen mehr, wenn wir die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung haben.«
»Ich würde von einem Tötungsdelikt ausgehen«, erwiderte Mikeys Mom ruhig. »Er hatte nicht den Mumm, es selbst zu tun, sonst wäre es schon vor langer Zeit geschehen. Er hat es ja bereits öfter versucht.«
Ihr Mann erstarrte und brach wieder in Tränen aus. Die Mutter des Jahres tröstete ihn, so gut sie konnte.
»Ich fürchte, da wäre noch etwas«, begann ich. »Wir haben eine zweite Leiche gefunden, allerdings nicht an der Brücke bei ihrem Sohn, sondern in seiner Pizzeria. Es ist eine junge Frau, die wir noch nicht identifizieren konnten.«
»O mein Gott«, rief die Bilderbuchmutter aus. »Das habe ich beinahe befürchtet.«
»Wissen Sie, wer dieses zweite Opfer sein könnte?«
Dad blickte auf, aber Mom kam ihm zuvor. »Glauben Sie also, dass diese Frau ermordet wurde?«
»Das ist möglich«, antwortete ich, die Untertreibung des Jahrtausends.
»Wie wurde sie getötet? Können Sie uns das sagen?«
»Das wissen wir noch nicht genau. Auch das wird die rechtsmedizinische Untersuchung zeigen.«
»Ich verstehe.«
»Können Sie uns irgendetwas über die Freundinnen Ihres Sohnes erzählen?«, fragte Bud. »Hatte er eine feste Beziehung?«
Dad rang nach Worten. »Nicht, dass wir wüssten«, erwiderte er mit schwacher Stimme. »Wir haben Mikey nämlich seit etwa sechs Monaten nicht gesehen.«
»Mikey hatte viele Freundinnen, eine nach der anderen. Viele waren nichts weiter als Huren und in diesem Hause nicht willkommen«, verkündete Mom.
Gut, schon kapiert, Toleranz zu heucheln ist wohl nicht Ihre Sache, gnädige Frau. »Können Sie uns vielleicht Namen nennen? Es ist wichtig, dass wir die Tote so schnell wie möglich identifizieren und die Angehörigen benachrichtigen.«
»Verlangen Sie etwa von uns, dass wir ins Leichenschauhaus fahren und uns die Leiche ansehen?« Natürlich kam diese Frage von der Dame mit dem Eiswasser in den Adern.
»Nein, Ma’am, das ist nicht möglich«, antwortete Bud.
»Was soll das heißen?«
Ich wollte mich nicht auf dieses Gespräch einlassen und hatte ohnehin beschlossen, die Einzelheiten nicht publik zu machen. Die Pressemeute würde sich darauf stürzen wie die Horde ausgehungerter Geier, die sie auch war. Aber über diesen Tatort sollte sie nichts erfahren, nicht in einer Million Jahren. Der Polizeichef würde einige Telefonate tätigen.
»Wir dürfen keine Details unseres Falles preisgeben, Ma’am. Allerdings müssen wir wissen, mit wem Ihr Sohn Umgang hatte, das heißt, seine männlichen Freunde ebenso wie seine Freundinnen. Haben Sie uns vielleicht etwas mitzuteilen?«
Dad richtete sich auf. Er wirkte beinahe redselig. »Ich glaube, er traf sich mit einem Mädchen, das die Missouri State in Springfield besucht hat. Doch ihren Namen kenne ich
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