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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Männer in den Himmel hinein. Die Kapelle schleuderte mit dem Gellen der Zymbeln kleine Kinder gegen die Knie ihrer Mütter. 
    "Da!" rief Jim. "Der Umzug! Jetzt ist er genau vor dem Zigarrenladen! Was machen wir eigentlich hier? Gehen wir!" 
    "Nein!" rief Will heiser und umklammerte Jims Knie. 
    "Natürlich halten sie hier an, wo alle Leute herumstehen. 
    Die kommen nie im Leben auf die Idee, uns hier zu suchen. Halt den Mund!" 
    Bummbumm-tamtarrara... 
    Das Eisengitter oben klirrte vom Schritt eines Mannes. 
    In der Schuhsohle hatte er abgetretene Nägel. 
    Dad! Will hätte fast laut aufgeschrien. 
    Er richtete sich auf, sank wieder zurück, biß sich auf die Lippen. 
    Jim sah, wie der Mann oben sich nach links und nach rechts wandte und etwas suchte, was nur einen Meter entfernt war. 
    Ich brauche nur die Hand auszustrecken, dachte Will. 
    Aber Dad eilte weiter, blaß und nervös. 
    Und Will spürte, wie ihm der Mut sank. Inwendig wurde er eiskalt, weißes Gelee zitterte. 
    Peng! 
    Die Jungen fuhren zusammen. 
    Ein ausgelaugtes Stück Kaugummi war auf einen Haufen alten Papiers neben Jims Fuß gefallen. 
    Oben kauerte ein fünfjähriger Junge auf dem Eisenrost und blickte traurig seinem verlorenen Kaugummi nach. Hau ab, dachte Will. 
    Der Junge kniete da, die Hände auf den Rost gedrückt. 
    Geh weiter, dachte Will. 
    Ihm überkam der verrückte Wunsch, den Kaugummi zu nehmen und ihn durch das eiserne Gitter hindurch dem Kleinen wieder in den Mund zu stecken. 
    Eine mächtige Trommel erdröhnte – dann Schweigen. 
    Jim und Will sahen einander an. 
    Jetzt hat der Zug angehalten, dachten beide gleichzeitig. 
    Der kleine Junge versuchte eine Hand durch das Gitter zu schieben. 
    Oben auf der Straße blickte Mr. Dark, der Illustrierte Mann, zurück über seinen Strom von Unholden, Käfigen, über sonnengelbe Tubas und blecherne Hörner. Er nickte. 
    Der Zug löste sich auf. 
    Die Mißgeburten huschten auf den Bürgersteig zu beiden Seiten, mischten sich in die Menge, verteilten Handzettel und sahen sich mit raschen, kristallklaren Augen um. Der Schatten des Kleinen fiel kühlend auf Wills Wange. Die Parade ist vorbei, dachte er. Jetzt fängt die Suche an. 
    "Sieh mal, Ma!" rief der kleine Junge. "Da unten..." 

Fünfunddreißigstes Kapitel 

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    In Neds Kaffeebar, nur ein paar Häuser vom Zigarrenladen entfernt, saß Charles Halloway. Er war erschöpft von der durchwachten, durchdachten Nacht, vom vielen Herumlaufen. Als er seine zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hatte und gerade zahlen wollte, beunruhigte ihn die plötzliche Stille draußen auf der Straße. Daß sich der Umzug auflöste und sich die Zirkusleute unter die Zuschauer am Straßenrand mischten, das spürte er mehr, als er sehen konnte. Er wußte auch nicht, warum, aber er steckte sein Geld wieder ein. 
    "Stell mir die dritte Tasse warm, Ned." 
    Ned wollte gerade den Kaffee einschenken, da ging die Tür weiter auf. Jemand trat ein und stürzte sich mit der rechten Hand leicht auf die Theke. 
    Charles Halloway starrte sie an. 
    Die Hand starrte zurück. 
    Auf den Rücken eines jeden Fingers war ein Auge tätowiert. 
    "Mama! Da unten! Schau doch!" 
    Der kleine Junge schrie und deutete durch das Gitter nach unten. 
    Immer neue Schatten zogen vorbei und blieben hängen. 
    Darunter auch – das Skelett. 
    Groß wie ein kahler Baum im Winter, dürr wie ein Gerippe, überall Knochen wie bei einer Vogelscheuche, so fiel der Schatten des Gerippes auf die verborgenen Dinge, auf kalten Papierabfall, auf warme, geduckte Jungen. 
    Geh weg, dachte Will. Geh! 
    Die dicken Kinderfinger zeigten durch das Gitter. 
    Geh! 
    Das Gerippe ging weiter. 
    Gott sei Dank, dachte Will, dann verschlug es ihm den Atem. "Oh – nein!" 
    Denn plötzlich tauchte der Zwerg auf. An seinem schmutzigen Hemd klingelten leise viele Glöckchen, sein gedrungener Schatten versteckte sich unter ihm, seine Augen waren wie braune Marmorsplitter, jetzt leuchtend in offenem Wahnsinn, im nächsten Augenblick tieftraurig in einem Wahnsinn des für ewig Verlorenen, ewig Vergrabenen, so suchte er nach etwas, das er nicht finden konnte, nach etwas Verlorenem, vielleicht nach zwei Jungen, dann wieder nach seinem verlorenen Ich; der kleine, zusammengedrückte Mann zwang seinen Blick hierhin, dorthin, hinauf, hinunter; ein Teil seines Ichs suchte die verlorene Vergangenheit, das andere die unmittelbare

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