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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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kälter, am kältesten?" 
    Die Augen des Illustrierten Mannes waren jetzt in Höhe des elften Regals. 
    Steif und starr wie ein Toter, mit dem Gesicht nach unten, lag Jim da, keine drei Zoll von ihm entfernt. 
    Ein Regal höher in der Katakombe, die Augen in Tränen schwimmend, lag Will Halloway. 
    "Na ja", sagte Mr. Dark. 
    Er streckte die Hand aus und streichelte Will über den Kopf. 
    "Hallo!" sagte er.

Dreiundvierzigstes Kapitel 

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    Für Will war die Hand, die sich nach ihm ausstreckte, wie der aufgehende Mond. 
    In der Handfläche sah er, tintenblau eintätowiert, sein eigenes Porträt. 
    Auch Jim sah eine Hand vor seinem Gesicht. 
    Aus der Handfläche starrte ihn sein Bild an. 
    Die Hand mit Wills Bild griff nach Will. 
    Die Hand mit Jims Abbild packte Jim. 
    Schreie. Rufe. 
    Der Illustrierte Mann hob die Jungen hoch. 
    Sie wehrten sich. Halb fielen sie, halb kletterten sie zu Boden. 
    Die Jungen schrien und strampelten und stürzten über ihn. Sie landeten auf den Füßen, bäumten sich auf, sanken in sich zusammen, wurden gehalten und aufgerichtet. Mr. Dark hielt sie am Hemd fest. 
    "Jim!" sagte er. "Will! Was habt ihr da oben zu suchen? Ihr wolltet doch wohl nicht lesen?" 
    "Dad!" 
    "Mr. Halloway!" 
    Wills Vater trat aus der Dunkelheit auf sie zu. 
    Der Illustrierte Mann schob sich behutsam die beiden Jungen wie Bündel unter einen Arm, betrachtete neugierig lächelnd Wills Vater und streckte die andere 
    Hand nach ihm aus. Wills Vater schlug einmal zu, dann wurde seine linke Hand gepackt, festgehalten, zusammengepreßt. Schreiend schauten die beiden Jungen zu, wie Charles Halloway ächzte und auf ein Knie sank. 
    Mr. Dark preßte die linke Hand des Mannes immer fester und drückte gleichzeitig ganz langsam und stetig mit dem anderen Arm die beiden Jungen gegeneinander, bis ihre Rippen knackten und ihnen die Luft aus den Lungen entwich. 
    Vor Wills Augen tanzten feurige Räder, in der Nacht tauchte etwas wie ein mächtiger Daumenabdruck auf. 
    Stöhnend sank Wills Vater zu Boden und ruderte mit dem rechten Arm durch die Luft. 
    "Verdammt!" 
    "Aber das bin ich doch längst", sagte der Zirkusmann sanft. 
    "Hölle und Verdammnis über Sie!" 
    "Mit Worten, alter Mann, mit Worten aus Büchern oder mit Ihren Worten gewinnt man nichts – nur mit wirklichen Gedanken, wirklichen Taten, mit Schnelligkeit. So!" 
    Er drückte mit seiner Faust noch einmal hart zu. 
    Die Jungen hörten Charles Halloways Hand knacken. 
    Er stieß einen letzten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. 
    Mit einer gleitenden Bewegung wie ein Pferd bei einer stolzen Pavane ging der Illustrierte Mann um den Bücherstapel herum, die Jungen fest unter dem Arm. Sie strampelten Bücher aus dem Regal. 
    Will spürte, wie Wände, Regale, Bücher vorbeiflogen. 
    Er wurde zusammengepreßt und mußte seltsamerweise denken: Nein, wie komisch, Mr. Dark riecht nach – nach dem Dampf der Zirkusorgel! 
    Dann wurden die beiden Jungen plötzlich fallen gelassen. Bevor sie sich regen oder wieder atmen konnten, wurden sie wie Marionetten am Haar hochgezerrt und erblickten ein Fenster, eine Straße. 
    "Ihr Jungen, lest ihr Charles Dickens?" flüsterte Mr. Dark. "Den Kritikern gefallen seine Zufälle nicht. Aber wir wissen Bescheid, nicht wahr? Das ganze Leben besteht nur aus Zufällen. Wenn du stirbst, dann hüpfen die Zufälligkeiten von dir weg wie Flöhe von einem geschlachteten Ochsen. Da!" 
    Die beiden Jungen wanden sich in der eisernen Umklammerung hungriger Saurier und bissiger Affen. 
    Will wußte nicht, ob er vor Freude oder vor neuer Verzweiflung weinen sollte. 
    Unten auf der Straße kamen auf dem Rückweg von der Kirche seine und Jims Mutter vorbei. 
    Also nicht auf dem Karussell, nicht alt, verrückt, tot, im Gefängnis, sondern frisch und munter in der sauberen Oktoberluft! Während der letzten fünf Minuten war sie keine hundert Schritte entfernt in der Kirche gewesen! 
    Mom, wollte Will schreien, aber in weiser Voraussicht preßte sich ihm eine Hand auf die Lippen. 
    "Mom!" krähte Mr. Dark höhnisch. "Komm doch! Rette mich!" 
    Nein, dachte Will. Rett du dich! Lauf! 
    Aber seine Mutter und Jims Mutter spazierten zufrieden aus der freundlichen, warmen Kirche nach Hause. 
    Mom, schrie Will noch einmal, und diesmal entschlüpfte unter der schweißfeuchten Hand ein kleiner quietschender Laut. 
    Wills Mutter, drüben auf dem anderen Bürgersteig tausend

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