Das brennende Gewand
Liebes, komm und steh auf. Sie warten schon auf dich. Komm, ich will dich laben. Will dir süßen Trank geben. Trinke, mein Herzchen, trinke. Es wird dich leicht machen und deine Schritte beschwingen. Komm, meine Feine, meine Schöne. Komm zur Treppe.«
Willig trank sie den gewürzten Wein, der ihr an die Lippen gehalten wurde. Wunderbar leicht war ihr Kopf, und gehorsam folgte sie dem zärtlichen Flüstern.
»Hurtig, hurtig! Wir müssen uns eilen. Hab keine Angst, sie sehen dich nicht. Der Mond ist nur noch eine schmale Sichel, und die Nacht liegt wie ein schützender Mantel über dir. Eile, eile, sorgliche Mutter, die Kinder rufen nach dir. Hörst du sie rufen, deine Kleinen? Hörst du sie weinen? Hörst du sie jammern nach deinen Brüsten? Nie hast du sie gestillt. Nie hast du sie gewiegt, nie hast du ein Lied für sie gesummt. Nur die Totenklage kennen sie aus deinem Mund. Schnell, schnell, lauf. Sie harren deiner in kalter Erde. Die Würmer haben ihr Gebein abgenagt, die Asseln ihre Augen gefressen, die nicht das Licht der Welt gesehen haben. Rette sie, rette sie, treulose Mutter. Getötet hast du sie in deinem Leib, ein Sarg war dein Bauch, eine Leichenhalle der Ungeborenen. Hierher, hierher, gottverlassene Mutter. Hier liegen die Knochen deiner Kinder, die tot aus deinem Leib gefahren sind. Ihre Seelen schreien nach dir, befreie sie aus dem schwarzen Grund ihrer Gräber.«
Es war dunkel und kühl, Feuchtigkeit klebte an ihren Füßen, Feuchtigkeit durchdrang das Hemd, als sie sich niederkniete und in der Friedhofserde scharrte. Sie musste sie herausholen. Sie musste sie in den Armen halten. Ihre Kinder durften hier nicht vermodern. Ihr lieblichen, hilflosen Söhne und Töchter. Sie wimmerten und weinten, sie klagten und riefen ihren Namen.
»Antworte ihnen, rufe sie, rufe sie. Ruf deine Kinder laut bei ihren Namen«, flüsterte es neben ihr, und schluchzend schrie sie die Taufnamen der verlorenen Kinder in die stille Nacht. Wie von Sinnen grub sie mit den bloßen Händen, stieß auf Wurzeln und Kröten, Kiesel und Knochen.
Sie schrie weiter und weiter, wehrte sich laut und kreischend, als die starken Hände sie packten und sie fortzerrten. Sie schlug um sich wie toll und biss und geiferte. Dann wurden ihre Arme gebunden und ihre Füße und sie selbst schließlich an ein hölzernes Bettgestell.
Dann senkte sich die Nacht über Almut.
39. Kapitel
Aziza strahlte den Händler an und zwackte ihm auf diese Weise eine Münze nach der anderen ab. Doch an diesem Morgen war ihre zur Schau gestellte Heiterkeit nur eine brüchige Maske, denn das, was der Mann nun, in Leinentücher gewickelt, in seiner Kiepe verstaute, waren liebgewordene Dinge, die sie in vielen Jahren zusammengesammelt hatte. Fein ziselisierte Messingteller, schlanke Kannen und breitrandige Schalen, mit Amethysten besetzte Pokale, schimmernd polierte Öllämpchen und emaillierte Dosen verkaufte sie, um wieder zu Geld zu kommen.
Sie hätte auch die Kredite zurückfordern können, die sie an Handwerker und Krämer vergeben hatte, aber das hätte diese Leute in Schwierigkeiten gebracht und ihr einen schlechten Ruf eingetragen. Also trennte sie sich lieber von ihrem Messinggeschirr.
Der Verlust ihrer Goldstücke war in vielerlei Hinsicht ein böser Schlag gewesen. Denn neben dem Geldverleih war sie auch als vertrauenswürdige Wechslerin bekannt, und die vielen Besucher Kölns, die aus allen Teilen des Landes kamen, baten sie oft, fremde Münzen in heimische Währung zu tauschen, vor allem aber schwere Golddukaten oder Florins in kleinere, handhabbarere Einheiten zu wechseln. Man konnte zwar ein Pferd mit Gold bezahlen, eine Mahlzeit aber erhielt man für Kupfer. Andere Reisende hingegen wollten ihr Kleingeld in größere Stücke gewechselt haben, die auch in fernen Ländern anerkannt waren.
Es dauerte sie daher auch, dass sie den Spezereienkaufmann und sein Weib fortschicken musste, die für ihre Fahrt nach Venedig Zecchinen benötigten. Einen ganz kleinen Moment war sie versucht, ihnen die Münzen auszuhändigen, die in ihrem Lederbeutel ruhten. Die Gefahr, dass sie die gefälschten Goldstücke erkannt hätten, wäre gering gewesen, denn der Mann schien halbblind zu sein. Er sah sich die ganze Zeit mit angestrengt zusammengekniffenen Augen um und war schon beim Eintreten über die Türschwelle gestolpert. Die Frau hingegen widmete sich weit mehr ihrem Putz und Flitter. Sie hatte gleich den gewölbten Silberspiegel neben dem Fenster entdeckt und
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