Das Buch aus Blut und Schatten
wieder an das FuÃende des Betts steckte und flüchtete. Man weià nicht einmal, dass man in einem Vorher lebt, bis man eines Tages aufwacht und feststellt, dass man in einem Nachher ist. Ich lächelte auf den Hoff hinunter und die linke Seite seines Mundes lächelte zurück. Verstand er, was um ihn herum geschah? Ich glaubte, ja. Aber verstand er auch, dass es das war, dass es nie wieder so sein würde wie früher? Das bezweifelte ich. Zwischen Wissen und Glauben lag ein weiter Weg, und wenn der Hoff ihn schon gegangen war, würde er jetzt nicht lächeln.
»Nicht gehen«, krächzte der Professor, obwohl ich mich gar nicht bewegt hatte.
»Ich werde nicht gehen«, erwiderte ich. »Und wenn ich gehe, komme ich wieder. Ich werde Sie besuchen.«
Mit einem Ruck richtete er sich auf und packte mein Handgelenk. Seine Hand fühlte sich wie eine Klaue an.
»Die werden lügen«, lallte er. »Aber Sie dürfen nicht gehen!«
»Okay«, erwiderte ich, weil es beim letzten Mal auch funktioniert hatte. »Okay, ich werde nicht gehen.«
»Versprechen Sie es.« Er sagte es wie ein kleines Kind.
»Ich verspreche es.«
Er lieà mich los und sank auf das Kissen zurück, während ein breites, schiefes Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Es hatte nicht viel gebraucht, um ihn glücklich zu machen. Aber schlieÃlich war ja sein ganzes Leben klein geworden. Es bestand aus diesen Schläuchen. Diesen Wänden. Diesem Bett. Keine Manuskripte mehr, die es zu entziffern, keine Rätsel mehr, die es zu lösen, keine alten Feindschaften mehr, die es zu pflegen galt. Und die einzige Geheimsprache, die er jetzt noch entschlüsseln musste, war seine eigene.
27 »Bitte komm«, sagte ich in das Telefon. Und er kam, ohne Fragen zu stellen, betrat das Haus, in dem mich bis jetzt nie jemand hatte besuchen dürfen, warf einen einzigen Blick auf mich und zog mich in eine Umarmung, die sich anfühlte, als könnte sie für immer dauern, wenn ich es wollte.
»Furchtbar?«, fragte Chris, der mich immer noch festhielt.
»Furchtbar.«
Er zog mich noch enger an sich. »Vielleicht hättest du ihn nicht besuchen sollen.« »Ich musste aber.« »Wenigstens ist es jetzt vorbei.« Es fühlte sich nicht an wie vorbei.
»Ich hasse Krankenhäuser.« Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Es war die einzige Möglichkeit, die Tränen abzuwischen, ohne ihn loszulassen.
»Wegen�«
»Nein.« In den letzten zwei Jahren waren wir noch nie so nah davor gewesen, über meinen Bruder zu sprechen. »Mit ihm hat das nichts zu tun.«
Aber vielleicht doch, so wie alles andere. Und vielleicht hatte ich Chris deshalb angerufen, ohne nachzudenken, ohne eine bewusste Entscheidung, ihn Adriane oder Max vorzuziehen, einfach deshalb, weil ich ihm gegenüber nichts erklären musste.
»Okay.« Und dann: »Nicht, dass meine Arme langsam schlapp machen oder so, aberâ¦wie lange soll das mit dem Umarmen dauern?«
»Noch ein bisschen.«
»Okay.«
Er hielt mich fest, bis ich so weit war, dass ich ihn loslassen konnte.
28 »Das ist also das Allerheiligste.« Chris schnappte sich meinen Schreibtischstuhl und setzte sich rittlings darauf. Ich nahm das Bett und zog die Knie an die Brust. Es war eigenartig, ihn hier zu haben, in meinem Zimmer, und zuzusehen, wie er mit dem Elefanten-Briefbeschwerer spielte, den ich in der vierten Klasse bei einem Ausflug in den Zoo bekommen hatte. »Jetzt verstehe ich, warum du es all die Jahre geheim gehalten hast.«
»Hör auf.«
»Nein, echt, das ist schockierend. Ist das« â er riss Mund und Augen auf â »tatsächlich ein Tischkalender? Und ein Sparschwein? Was für eine abgefahrene Organisation steuerst du von hier aus?«
»Arschloch.«
Er grinste. »Du weiÃt doch, dass Komplimente mich immer so verlegen machen.«
An meinem Zimmer, das seit Jahren nicht mehr renoviert worden war und daher noch die rosa Wände und den türkisfarbenen Teppich besaÃ, die ich mir mit neun Jahren ausgesucht hatte, war nichts Schockierendes, geschweige denn Bemerkenswertes. Das Einzige, was an den Wänden hing, war ein Wimpel der Red Sox, den ich aus Andys Zimmer geholt hatte, bevor meine Eltern ihn bei einer ihrer Säuberungsaktionen wegwerfen konnten, und ein Delfingemälde, das mir meine Mutter zu meinem sechzehnten Geburtstag
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