Das Buch der Gaben - Tommy Garcia ; Band 1
Nichts blieb ich neben Tommy stehen und starrte fasziniert hinab in die Tiefe. Augenblicklich erfasste mich ein Schwindelgefühl, obwohl ich weit genug vom Rand entfernt war. Es war gigantisch. Es fiel mir schwer, den Abgrund zu schätzen, aber hundert Meter ging es bestimmt steil nach unten. Und dann entdeckte ich auch die Ursache für das laute Rauschen, das hier vorn beinahe wie ein Donnern in unsere Ohren drang. Am Boden dieser Schlucht schoss ein Fluss mit wilder Geschwindigkeit dahin. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich sehen, dass das Wasser große Felsbrocken umtoste. Wie auch immer dieser Abgrund und dieser Fluss mit seinen Stromschnellen entstanden sein mochten, es mussten unglaubliche Kräfte am Werk gewesen sein. Soweit das Auge reichte, schlängelte sich die Schlucht und verlor sich dann am Horizont. Als hätten sich zwei Riesen um einen gewaltigen Keks gestritten und diesen dann in der Mitte zerbrochen. Tommy stieß mich an und ich erschrak.
»Sieh mal da!«, rief er mir durch das Rauschen zu.
Ich schaute nach rechts und sah, was er meinte: Vielleicht zwanzig Meter weiter rechts befanden sich auf unserer Seite drei, vier in den Fels gehauene Stufen. Sie führten an der Felswand hinunter zu einem kleinen Vorsprung, und von dort aus spannte sich eine Hängebrücke über den Canyon!
»Mann!«, rief ich, und gleichzeitig schoss mir das Adrenalin von den Waden aufwärts bis in meine Arme und Hände. Schon die Vorstellung, da rüberzumüssen, löste in meinem Körper eine Abwehrreaktion aus.
»Na, was denn!«, rief Tommy zurück. »Wo ein Weg ist, ist auch ein Wille!«
»Schönen Dank«, grinste ich und zeigte zurück Richtung Sanne und Janine. »Und wer bringt das den beiden da bei?«
Tommy machte eine abweisende Geste mit der Hand und gab mir zu verstehen, dass er etwas ausprobieren wollte.
»Ich geh mal runter und seh mir das Ding an. Warte hier auf mich.«
Das wollte ich natürlich nicht, aber dann wurde mir klar, dass uns die Mädchen nicht sehen konnten, wenn wir jetzt hier beide die Stufen zur Brücke runtersteigen würden. Also entschied ich mich zu warten und beobachtete Tommy mit gemischten Gefühlen, wie er vorsichtig den Abstieg begann, und winkte den Mädchen beruhigend zu.
Wider Erwarten schien es Tommy nicht schwerzufallen, die gefährlich aussehenden Felsstufen hinabzusteigen. Ohne Probleme erreichte er die Plattform und begutachtete die Aufhängung der Brücke. Er riss und schüttelte an den Seilen. Dann nahm er die beiden Führungsseile in die Hände und mir blieb das Herz stehen. Ich wollte »Hör auf!« schreien, aber ich bekam nichts heraus.
Und dann vertraute ich Tommys Instinkt. Wenn er keine Angst hatte, dann konnte es nicht wirklich gefährlich sein.Mit den Händen an den Seilen ging er erste vorsichtige Schritte auf die Hängebrücke hinaus. Soweit ich es von meinem Standpunkt aus sehen konnte, bestand der Boden der Brücke aus Holzbohlen. Ganz so, wie man es immer in den Abenteuerfilmen sehen konnte. Um den Seiten Halt zu geben, waren dicke Lianen zu einer Art Geländer geflochten, und den Abschluss bildeten die beiden Führungsseile, an denen man sich festhalten konnte. Die Brücke überspannte die Schlucht und bog sich leicht in die Tiefe. Sie schwankte auch etwas im Wind, der aber hier Gott sei Dank nur mäßig wehte. Tommy wagte sich etwa zehn Meter weit vor, löste dann eine Hand vom Seil und winkte mir zu. Also schien alles so weit in Ordnung. Ich schaute nach unten. Wieder ereilte mich das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Die Brücke hielt Tommy aus. Aber würde sie auch uns alle auf einmal tragen?
Tommy kam die Stufen hinauf zurück.
»Wie sieht’s aus?«, fragte ich ihn gespannt.
»Die trägt eine ganze Fußballmannschaft«, sagte er. »Nur runtergucken sollte man nicht. Da ist selbst mir schwindlig geworden.«
»Wie tröstlich«, meinte ich grinsend. »Da ist selbst dir schwindlig geworden! Und du machst sonst Bungee-Jumping!«
Tommy lachte.
»Hab ich dir schon gesagt, dass wir beide uns nur mit einer Hand festhalten können, wenn wir da rübergehen?«
Ich guckte ihn verblüfft an.
»Warum das denn?«
»Na, kannst du dir vorstellen, dass Jever und Lazy da sicher rüberkommen? Ein Fehltritt und sie fallen runter. Wir werden sie auf den Arm nehmen müssen.«
Mir wurde ganz anders.
»Mach nicht so ein ängstliches Gesicht!« Tommy lachte. »Sonst musst du Sanne und Janine auch noch auf den Arm nehmen!«
Tommy hatte gut reden. Mach nicht so ein
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