Das Buch der Schatten 1 - Verwandlung
ich eine Weile mit offenem Mund da. Mein Vater hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt, offensichtlich in dem Versuch, sie zu beruhigen. Doch sie starrte mich nur wütend an, tiefe Falten um den Mund, die Augen zornig und kalt und … besorgt?
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Normalerweise war meine Mutter unglaublich vernünftig.
»Ich dachte, wir glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist«, sagte ich. »Das sind drei.«
Die Venen an Moms Hals sprangen so weit hervor, dass es aussah, als platze sie gleich vor Wut. Plötzlich ging mir auf, dass ich inzwischen größer war als sie. »Geh in dein Zimmer!«, brüllte sie, und wieder zuckte ich zusammen. Bei uns wird eigentlich nie die Stimme gehoben.
»Mary Grace«, murmelte mein Vater.
»Geh!«, schrie meine Mutter, warf den Arm hoch und zeigte auf die Küchentür. Es sah fast so aus, als wollte sie mich schlagen. Ich war schockiert.
Dad streckte die Hand, die bei der heftigen Armbewegung hinuntergerutscht war, aus und berührte Mom noch einmal an der Schulter, eine vorsichtige,
wirkungslose Geste. Sein Gesicht war verhärmt und seine Augen hinter der Nickelbrille besorgt.
»Ich gehe«, murmelte ich und machte einen weiten Bogen um sie. Ich stapfte nach oben in mein Zimmer und knallte die Tür zu. Ich schloss sogar ab, was ich eigentlich nicht durfte. Verschreckt setzte ich mich auf mein Bett und kämpfte gegen die Tränen.
Immer wieder ging mir derselbe Gedanke im Kopf herum: Wovor hatte Mom solche Angst?
14
IMMER TIEFER
»Der König und die Königin sehnten sich viele Jahre lang nach einem Kind und adoptierten schließlich ein kleines Mädchen. Doch zu ihrem Unglück war es dem Kind beschieden, zu einer Riesin heranzuwachsen und sie mit seinen stählernen Zähnen zu fressen.«
Aus einem russischen Märchen
»Wie kommt es, dass sie noch ein Blümchen mit dir zu zupfen haben?«, fragte Mary K. am nächsten Morgen.
Ich setzte Das Boot rückwärts aus der Einfahrt, zwei Müsliriegel zwischen den Zähnen.
Als Mary K. noch klein war, hatte sie einmal etwas angestellt, worauf meine Mutter ihr streng erklärt hatte, sie habe noch ein »Hühnchen mit ihr zu rupfen«. Mary K. hatte »Blümchen zu zupfen« verstanden und das ergab natürlich überhaupt keinen Sinn für sie. Doch seitdem sagten wir das immer so.
»Ich habe Bücher gelesen, von denen sie nicht wollten, dass ich sie lese«, murmelte ich und versuchte, beim Reden keine Krümel übers Armaturenbrett zu spucken.
Mary K. machte große Augen. »Etwa Pornografie?«, fragte sie aufgeregt. »Wo hast du die her?«
»Es war nichts Pornografisches«, erklärte ich ihr wütend. »Es war gar keine große Sache. Ich weiß echt nicht, warum sie so ausgeflippt sind.«
»Was war es denn?«, wollte sie wissen.
Ich verdrehte die Augen und schaltete in einen anderen Gang. »Ein paar Bücher über Wicca«, sagte ich. »Das ist eine uralte frauenzentrierte Religion, älter als Judentum und Christentum.« Ich hörte mich schon an wie ein Lehrbuch.
Meine Schwester dachte einen Augenblick darüber nach. »Das klingt aber ganz schön langweilig«, sagte sie schließlich. »Warum liest du keine Pornos oder was Interessantes, was ich mir ausleihen könnte?«
Ich lachte. »Vielleicht irgendwann mal.«
»Du machst Witze«, sagte Bree mit weit aufgerissenen Augen. »Das glaube ich nicht. Das ist ja schrecklich.«
»Es ist total blöd«, sagte ich. »Sie wollen, dass die Bücher aus dem Haus verschwinden.« Die Bank vor der Schule, auf der wir saßen, war kalt. Die Oktobersonne verlor mit jedem Tag an Kraft.
Robbie nickte mitfühlend. Seine Eltern waren viel strengere Katholiken als meine. Er hatte ihnen bestimmt nichts von seinem Interesse an Wicca erzählt.
»Du kannst sie zu mir bringen«, sagte Bree. »Meinem Vater ist das egal.«
Ich zog den Reißverschluss meines Parkas bis zum
Hals hoch und vergrub mich darin. In wenigen Minuten fing die erste Stunde an, und unsere neue gemischte Clique war am östlichen Eingang zur Schule versammelt. Tamara und Janice kamen auf das Schulgebäude zu, die Köpfe beim Reden gesenkt. Ich vermisste sie. Ich hatte sie in letzter Zeit kaum gesehen.
Cal hockte auf der Bank uns gegenüber neben Beth. Er trug alte Cowboystiefel, deren Fersen ganz abgetreten waren. Er schwieg und sah uns nicht an, doch ich hatte das Gefühl, er lauschte auf jedes Wort unseres Gesprächs.
»Scheiß drauf«, sagte Raven. »Die können dir nicht vorschreiben, was du lesen
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