Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
saß ebenfalls auf der letzten Bank. Nur der Gang trennte sie voneinander.
Plötzlich wurde es ruhig. Pater Richmon betrat die Kirche. Einer nach dem anderen erhob sich von seinem Platz. Gesenkten Hauptes kam er durch die Tür des Glockenturmes. Gekleidet in ein weißes Gewand, das mit einem roten Band an den Hüften zusammengehalten wurde. Der Brustteil wurde von zahlreichen Stickereien geschmückt. Seine Hände ineinander verschränkt stellte er sich den Versammelten entgegen.
Leise Orgelmusik ertönte aus dem Hintergrund. Für die musikalische Begleitung war Schwester Maria zuständig. Pater Richmon blickte auf. Die Musik verstummte.
„Meine lieben Brüder und Schwestern“, begann er laut und deutlich zu sprechen. Mit einer Handbewegung forderte er auf, sich zu setzen. „Wieder einmal sind wir zusammengekommen, um gemeinsam die Abendmesse, das Gebet an den Heiligen Vater, abzuhalten. Vorweg aber wollen wir zusammen das Ave Maria anstimmen, das ihr im Liederbuch auf der Seite sechsundzwanzig vorfinden werdet.“
Wieder ertönte leise Orgelmusik. Solange der Text in den Liederbüchern gesucht wurde, nutzte Dumpkin die Gelegenheit, sich etwas genauer umzusehen. Showy, der neben ihm stand, gab ihm einen sanften Tritt gegen den Fuß.
„Hast du etwas entdeckt?“ fragte Dumpkin darauf, ohne Showy dabei anzusehen.
„Ganz vorne, in der ersten Reihe sitzt Rotschopf“, flüsterte Showy zurück. Dumpkin lugte zwischen den Köpfen hindurch. Rouvens rotes Haar war unverkennbar.
Dumpkins Miene verfinsterte sich. „Eines Tages ist es soweit!“ zischte er.
Die Musik wurde lauter. Pater Richmon stimmte die erste Strophe an. Dumpkin vergewisserte sich, daß er nicht beobachtet wurde. Gemeinsam wurde das Ave Maria begonnen. Vorsichtig wandte Dumpkin seinen Kopf nach rechts. Melanie hatte mit in das Lied eingestimmt. Sie mochte ungefähr vierzehn Jahre zählen, hatte aber für ihr junges Alter schon eine beträchtlich weibliche Figur. Dumpkin ließ seinen Blick über ihr goldblondes Haar schweifen, das zu einem dicken Zopf geflochten bis zur Gürtellinie reichte. Plötzlich bewegte sich ihr Kopf zu seiner Seite. Ein sanftes Lächeln flog über ihren Mund. Dumpkin brachte es wieder nur zu einem Grinsen. Nur für einen Moment hatte sie Dumpkin angesehen. Das genügte, um sein Herz schneller schlagen zu lassen. Im stillen schwor er sich, die nächstbeste Gelegenheit zu nutzen, Melanie anzusprechen.
Das Ave Maria war zu Ende. Mehr gelangweilte als angeregte Blicke waren gegen den Altar gerichtet. Pater Richmon stellte sich vor den Opfertisch. Seinen Blick zu Boden gerichtet.
Nach einigen schweigsamen Minuten sah er wieder auf. „Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, die mir vor langer Zeit ein sehr weiser Mann erzählt hatte“, begann er zu reden. Dabei wanderte sein Blick über die Köpfe der Schüler hinweg. „In einem kleinen Dorf, es war das Dorf, in dem der alte Mann seine Wohnung hatte, ging seit langer Zeit das Gerücht umher, daß es einen Schatz gäbe, der alle Weisheiten der Erde beinhalten würde. Der alte Mann wußte einiges von diesem Schatz, nur nicht, wo er sich befindet. Eines Tages offenbarte er einem guten Freund sein gesamtes Wissen über diesen Schatz. Er wußte, daß dieser Freund, sollte er diesen Schatz finden, seines Besitzes gerecht werden konnte. Doch sie wurden beobachtet und belauscht. Ein anderer, Unbekannter, erfuhr nun auch das Wissen des alten Mannes. Sofort machte sich dieser auf die Suche des Schatzes. Tage vergingen. Der Belauscher hatte nur noch diesen Schatz im Kopf. Er vergaß alle schönen Dinge um sich herum. Er wollte als erster diesen Schatz der Weisheit finden. Weitere Tage, Wochen, Monate vergingen. Ohne Erfolg. Es machte ihn rasend vor Wut. Seine Laune wurde immer schlechter, sein Verhalten den Mitmenschen gegenüber unausstehlich. Das Wissen, nichts zu wissen, das war es, was ihm zu schaffen machte. Seine abnormale Neigung, seltsame Fragen zu stellen, nachts nicht zu schlafen, sondern die Dunkelheit zu nutzen, um diesen Schatz zu finden, machte ihn verdächtig. Bald schon wußte der alte Mann, daß er belauscht worden war. Er bekam Mitleid mit ihm. Der alte Mann nahm ein altes Kästchen, schrieb auf einen Zettel ein paar Worte und legte diesen Zettel hinein. Das Kästchen ließ er ihm zukommen. Mit zitternden Händen öffnete der Unbekannte das Kästchen. Mehrmals las er die Worte auf dem Zettel. Darauf stand: Und wenn du alles weißt, mein Sohn, dann bist du dem
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