Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Vergeblich versuchte er sich zu befreien, sein Bein von den Krallen loszureißen. Von dem Sturz in das Loch hatte er sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Blut näßte sein Gesicht. Richmon war, als wären schon Stunden vergangen. Stunden, in denen er nur auf dem Boden entlanggeschleift wurde. Sein Bein schmerzte. Höllisch, als würde ständig jemand daran herumstochern. Plötzlich stoppte es. Richmon blickte um sich. Finsternis, nur Finsternis. Nicht das Geringste konnte er sehen. Nicht einmal seine eigene Hand. Auf einmal ließ es ihn los. Sein Bein fiel zu Boden. Diese Gelegenheit wollte er nutzen. Trotz der qualvollen Schmerzen zwang er sich aufzuspringen. Aussichtslos! Etwas packte ihn, hob ihn einfach empor. Richmon wußte nicht, wie ihm geschah. Einer unwiderstehlichen Gewalt war er ausgesetzt. Einer Gewalt, die nichts Menschliches an sich hatte. Seine Beine baumelten über dem Boden. Mit den Armen wollte er um sich schlagen, traf jedoch nur ins Leere. Plötzlich verspürte er Hartes hinter sich. Unsanft drückte es ihn gegen das Gemäuer. Seine Arme wurden gespreizt. Das Rasseln von Ketten hallte in dem Gewölbe. Eisen umklammerten seine Handgelenke. Richmon wollte schreien. Nur schreien. Die Furcht war zu groß, sie verschnürte ihm die Kehle. Jäh wurde er losgelassen. Schlagartig fiel er nach unten, doch die Ketten fingen ihn auf. Das Eisen an seinen Gelenken quetschte die Haut zusammen. Seine Arme, sie schmerzten. Als würden sie emporgerissen. Der Schmerz fuhr ihm bis in das Hüftgelenk, so stark war die Wucht seines eigenen Gewichtes. Stille! Totale Stille! Waren es Minuten, oder waren es Stunden? Er besaß kein Gefühl mehr für die Zeit. Die Schmerzen, das Dunkel, diese undurchdringbare Finsternis, alles verschmolz sich in einem, packte sich zusammen und war nur da. Einfach da. Brutal, erbarmungslos.
Auf einmal ein Geräusch. Es kam näher, noch näher, verstummte.
Hallo, Niclas , flüsterte eine Stimme.
Richmon blickte auf. Obwohl er nichts sehen konnte, fixierte er die Richtung, von der die Stimme zu ihm drang.
Weißt du, was ich will, Niclas?
Mich, brachte Richmon nur mühevoll hervor.
Falsch! zischte es ihm entgegen. Nicht dich, Niclas, nicht dich. Das Buch, Niclas. Wo ist das Buch? Wo ist es?
Richmon gab keine Antwort.
Deine Ungehorsamkeit mußt du bezahlen, Niclas. Weißt du, was dir bevorsteht? Weißt du das?
Du kannst meinen Körper töten, hauchte Richmon, aber nicht mich. Nicht meine Seele.
Nicht deine Seele will ich haben, Niclas. Sie ist nutzlos für mich. Dein Gesicht, das werde ich mir holen. Dein Gesicht. Ich habe keines, verstehst du?
In Sekundenschnelle entbrannte vor Richmon eine Fackel. Entsetzt kniff er die Augen zusammen. Richmon dachte an die Worte von Rouven. – Sieh nicht hinein – hatte er ihm zugerufen. – Dann hat er dich, für immer –.
Du brauchst mich nicht anzusehen, flüsterte das Geschöpf. Nicht mehr lange, dann gehören deine Augen mir.
Richmon drückte noch fester seine Augen zusammen. Plötzlich verspürte er einen spitzen Gegenstand an seinem Hals. Er mußte sich zwingen, die Augen verschlossen zu halten.
Mit deinem Gesicht, Niclas, werde ich es mir wieder holen, hauchte es Richmon entgegen. Langsam bohrte sich sein Fingernagel in dessen Haut. Das Buch wird mir alle Wünsche erfüllen. Dann besitze ich die Macht. Ich, Niclas, ich!
„Ah –“. Jäh fuhr Ellinoy nach oben. Entsetzt griff er sich an den Hals, blickte um sich. Es war noch dunkel. Ängstlich tastete er nach dem Lichtschalter. Erleichtert atmete er auf, als das Zimmer erhellte. Wenige Minuten nach drei Uhr zeigte sein Wecker an.
„Nur ein Traum“, sprach sich Ellinoy zu. „Es war nur ein Traum.“ Geraume Zeit verging. Das Licht getraute er nicht wieder auszuschalten. Nur schleichend verstrichen die Minuten. Er wollte ihn verdrängen, diesen Traum, doch deutlich sah er jedes Detail noch vor Augen.
„Verdammte Scheiße“, begann er in sich hineinzufluchen. Verzweifelt warf er einen Blick auf die Uhr. Nur kaum hatte der Zeiger sich bewegt, seit er das letzte Mal auf die Uhr geblickt hatte. Unruhig legte er sich zurück, zog sich die Bettdecke bis an den Hals. Das Licht jedoch löschte er nicht. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Momentan sah er wieder dieses Geschöpf vor sich, das Richmon den Hals aufschlitzen wollte.
Bis in den Morgen hinein hielt sich Ellinoy wach. Sehnsüchtig wartete er auf die ersten Sonnenstrahlen. Punkt sieben Uhr verließ er sein Zimmer. Der
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