Das Buch der Sünden
gegenüber gerne mit Frauengeschichten prahlte, setzte ein beleidigtes Gesicht auf. «Natürlich tue ich das! Ich hab schon jede Menge Brüste in den Händen gehabt. Was glaubst du wohl? Wollte halt nur mal wissen, was dran ist an den Gerüchten über dich und Mardöll.»
«Nichts ist dran. Überhaupt nichts! Ich kann das Weib nicht ausstehen und werde es ganz sicher nicht heiraten. Da können sich ihre Brüste noch so weich anfühlen. Lieber schließe ich mich Hovis Kriegern an und folge ihnen in den Tod. Das kannst du Mardöll ausrichten, wenn du sie mal wieder siehst.»
«Das werde ich tun, mein Freund», erwiderte Ingvar vergnügt, während er die Eimer unter der Quelle auswechselte.
Dann beobachteten sie eine Weile den Fischer. Björn hatte seine Hechtfallen ausgelegt und war anschließend auf das Noor gerudert, wo er ein Netz einholte und Brachsen und Barsche aus den Maschen pulte.
«Wir könnten mal wieder eine Partie Hnefatafl spielen», meinte Ingvar nach einer Weile.
Helgi musste an die Holzfigur denken und holte sie hervor.
«Soll das eine neue Spielfigur sein?», fragte Ingvar. «Darf ich sie mal sehen?»
Helgi gab sie ihm und sagte: «Das ist Freyja. Ich habe sie aber nicht fürs Hnefatafl gemacht, sondern …»
Er verstummte.
«Sondern?», meinte Ingvar. «Warum redest du nicht weiter? Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Das sehe ich dir doch an! Da ist etwas in deinem Blick, so etwas Verträumtes.»
Helgi gab sich einen Ruck. Sie kannten sich seit einer Ewigkeit und vertrauten einander. Warum sollte er seinem Freund nicht von der stummen Sklavin erzählen?
«Du weißt doch, dass auf unserem Markt auch Sklaven verkauft werden», begann er.
Ingvar nickte.
Helgi fuhr fort: «Im vergangenen Herbst brachte ein Schiff eine Ladung Sklaven in die Stadt. Der fette Hrodmar, dem das Sklavenviertel gehört, kaufte alle Unfreien auf und brachte sie auf den Marktplatz, um sie dort weiterzuverkaufen. Unter ihnen war auch eine junge Frau. Sie hatte lange Haare, die bis auf den Rücken reichten und deren Farbe wie von glänzenden Kastanien war. Ihre Augen waren so schwarz wie Kohle, und ihre Haut war so weiß wie frisch gefallener Schnee.»
Helgi wartete neugierig auf eine Reaktion seines Freundes. Doch Ingvar starrte nur abwesend auf den See.
«Hast du das Mädchen gekauft?», fragte er schließlich.
«Nein. Du weißt doch, dass gute Sklaven doppelt so viel kosten wie eine Kuh. Ich könnte mir nicht mal einHuhn leisten oder von Björn eine
skálgi.
Zweihundertfünfzig Gramm Silber wollte Hrodmar für das Mädchen haben. Für alle anderen Sklaven hat er nur zweihundert verlangt.»
Ingvars Stimme war mit einem Mal kühl: «Warum hängst du dein Herz an eine Unfreie, die du eh nicht besitzen kannst?»
Helgi zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es auch nicht. Seitdem ich Rúna gesehen habe, muss ich ständig an sie denken.»
«Rúna? Ein merkwürdiger Name.»
«Den hat Hrodmar ihr gegeben. Ihren richtigen Namen kennt niemand.»
«Warum denn nicht?»
«Sie … sie redet nicht.»
Ingvar glotzte seinen Freund an wie jemanden, der völlig den Verstand verloren hatte. «Du bist verliebt in eine Sklavin, von der du nichts weißt, die einem anderen Herrn gehört – und die auch noch stumm ist wie ein Fisch? Bei Thor, Helgi, kann es sein, dass du dir beim Schmieden nicht auf den Daumen, sondern auf den Kopf gehauen hast?»
Helgi sah seinem Freund an, dass diese Frage durchaus ernst gemeint war. Er war enttäuscht. Warum verstand sein bester Freund ihn nicht? Verletzt verlangte er von Ingvar die geschnitzte Freyja zurück.
«Ich hätte gedacht, dass ich mit dir darüber reden könnte.» Er nahm seine Eimer und stapfte beleidigt davon.
Ingvar folgte ihm. «Entschuldige», rief er, «es war nicht so gemeint.»
Schweigend gingen sie durch den Wald. In den Bäumen schimpften Eichelhäher. Unter ihren Füßen raschelteLaub, und irgendwo zirpte eine Grille. Sie ließen den Wald hinter sich, gingen über die Wiese und gelangten schließlich zum Sklavenviertel.
Helgi wagte einen Blick durch das Tor, in der Hoffnung, Rúna irgendwo zu sehen.
«Warum interessierst du dich für das Sklavenviertel? Ich dachte, das Mädchen ist verkauft worden», meinte Ingvar.
«Ist es ja auch – und zwar ausgerechnet an Gizur! Er hat ihr die Haare geschoren.»
Ingvar blies die Backen auf. Nachdem er die Luft geräuschvoll hatte entweichen lassen, meinte er: «Der Kryppa! Dann kann sie einem ja wirklich
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