Das Buch der Sünden
leidtun.»
Helgi nickte. «Eigentlich kann die Sklavin von Glück reden, dass Herkia sie nicht in ihrem Haus haben will. Es heißt, dass Rúna deshalb jeden Abend hierher zurückkehren muss.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob sie es hier wirklich besser hat», entgegnete Ingvar.
In dem Moment schwankte ein stämmiger Kerl aus einem der Gebäude auf den kleinen Innenhof. Er gehörte zu Hrodmars Männern. An einem Haufen aus zusammengeworfenem Gerümpel ließ er die Hose herunter, um zu pinkeln. Der Strahl scheuchte einige Ratten auf, und die Nager schossen aus dem Müll hervor.
Nachdem der Mann seine Hose wieder hochgezogen hatte, verschwand er in einem schiefen Langhaus. Das Gebäude sah aus, als müsse man nur mit dem Finger dagegenschnippen, um es zum Einsturz zu bringen. Als der Mann erneut auf den Hof kam, zog er ein junges Mädchen am Kragen seiner Tunika hinter sich her. Sie war etwa sechzehn Jahre alt und damit jünger als Rúna, die Helgiauf achtzehn oder neunzehn schätzte. Das Gesicht des Mädchens war so sehr mit Dreck verschmiert, dass man es kaum erkennen konnte. Man hatte ihr wegen der Läuse den Schädel geschoren, so wie allen anderen Sklaven auch.
«Was hat er mit ihr vor?», fragte Helgi, nachdem der Wächter mit der Sklavin in einem anderen Haus verschwunden war.
«Vielleicht soll sie ihm einen Eintopf kochen», sagte Ingvar ironisch.
Bald darauf überquerten sie den Bach.
Kurz hinter der Holzbrücke trennten sich ihre Wege. Ingvar wohnte am westlichen Stadtrand, in einem Grubenhaus, in dem er sich auch seine Werkstatt eingerichtet hatte. Helgis Elternhaus befand sich im Handwerkerviertel, in der Nähe des Hafens.
Plötzlich stürmte eine Handvoll halbwüchsiger Knaben durch die Gassen auf sie zu. Einer von ihnen rief: «In Yggdrasils Ästen hängt ein Toter! Ein Toter! Ein Mann wurde getötet! In Yggdrasils Ästen hängt ein Toter!» Dann waren die Knaben hinter der nächsten Ecke verschwunden.
10.
Nördlich von Haithabu stand auf einer Feuchtwiese eine gewaltige Esche, etwa auf halber Strecke zur Hochburg und etwas abseits des Nordsüdwegs. Ihre Wurzeln wurden vom glasklaren Wasser eines Baches umspült, der sich dahinter in drei Läufe teilte. Die Bewohner nanntendiesen Baum «Yggdrasil», denn in der uralten Geschichte von der Erschöpfung der Welt hieß es, Yggdrasil sei der Götter vornehmster Aufenthalt. Hier an der Esche, deren Zweige die Welt umspannten und deren Wurzeln bis Asgard, Midgard und Niflheim reichten, hielten sie Gericht. Der Totendrache Nidhöggr nage an den Wurzeln; in seinen Ästen sitze ein Adler, der viele Dinge wisse. Ein Eichhörnchen flitze zwischen dem Adler und dem Drachen hin und her. Es erzähle viele Lügen, um Streit und Hass zu säen zwischen den Dingen.
Daran glaubten die Menschen, und sie sahen in der Esche, die bei Haithabu stand, ebenjenen Weltenbaum, den die Götter besingen.
Heute jedoch, am Vormittag eines heißen Tages, einem von vielen in der Gluthitze dieses Sommers, waren weder Adler noch Eichhörnchen zu sehen.
Helgi erschauerte. Auch Ingvar an seiner Seite war entsetzt. Die halbe Stadt schien auf den Beinen zu sein und hatte sich bei dem Baum versammelt. Niemand wagte zu sprechen, bleierne Stille hatte sich breitgemacht. Die Menschen waren wie gelähmt vor Angst.
Der Anblick war grauenvoll. In der Esche hing der ausgeweidete Körper eines Mannes. Seine Leiche war nackt. Man hatte ihn regelrecht geschlachtet. Der Tote war mit Stricken an den Ästen befestigt, sodass es aussah, als schwebe er in einer Höhe von etwa zwanzig Fuß. Man hatte ihm einen Strick um den Hals gezogen, diesen über einen kräftigen Ast geworfen und ihn daran hochgezogen. Der Oberkörper war vom Hals abwärts bis zum Unterleib aufgeschlitzt. Lange, wurstartig in sich verdrehte Gebilde baumelten aus dem Körper heraus wie Taue von einem Segelmast. Klumpenförmige, blutige Innereien waren herausgefallen.Die Leichenteile lagen rings um die Esche verstreut herum auf dem Boden und im Bach. Auf der Wiese standen zudem zwei abgeschnittene Füße, ein linker und ein rechter; diese hatte man dem Opfer samt der Schuhe von den Beinen abgetrennt.
Eine Böe strich vom Slienfjord herauf und verfing sich in Yggdrasils Blättern und Zweigen. Einige der Schaulustigen stießen Schreie aus, als der Wind die Leiche hin- und herpendeln ließ, als sei sie von einer Geisterhand berührt worden.
Helgi stieß Ingvar an. «Schau mal, was da für ein eigenartiges Zeichen auf der Stirn
Weitere Kostenlose Bücher