Das Buch der Sünden
arbeitete er sich vorwärts. Seine Augen suchten den Waldboden ab. Hier waren es noch vier Spuren, nachher nur noch drei. Wo war die vierte abgeblieben?
Er war etwa dreihundert Schritt weit gekommen, als es im Unterholz raschelte. Helgi griff nach dem Messer.Aber es war nur eine Waldmaus, die aufgeschreckt davonhuschte. Da hörte Helgi ein scharrendes Geräusch.
Er verließ den Weg nach rechts, ging in den Wald hinein. Die Bäume standen dicht an dicht. Alte Baumstämme und herabgefallene Äste lagen herum. Nach einigen Schritten fiel das Gelände in eine Senke ab.
Da war es wieder, das Geräusch.
Helgi sah ein Tier mit rotbraunem Fell. Es war ein Fuchs. Er fegte aufgeregt um etwas herum, das in der tiefsten Stelle der Senke lag und auf die Entfernung aussah wie ein Erdhaufen. Der Fuchs stupste mit der Schnauze dagegen, zog und zerrte daran. Unter seinen Pfoten wirbelte Laub auf. Dann bekam das Tier etwas zwischen die Zähne. Es riss ein Stück heraus. Es sah aus wie Stoff. Schmutzig grauer Stoff.
Da erkannte Helgi, was dort lag. Er wollte schreien, doch die Stimme erstickte in seiner Kehle. Er rannte in die Senke hinunter. Der Fuchs jagte davon. Helgi warf sich auf die Knie. Sein Herz trommelte. Die Hand, die er ausstreckte, zitterte. Er drehte den Körper auf den Rücken.
Es war Einar.
Sein Gesicht war farblos. Seine Augen waren getrübt und starrten leer.
Schwarze Fliegen stoben vom Leichnam auf. Aus den dünnen blonden Haaren krabbelte ein Käfer hervor. Die Haare waren verklebt mit einer braunen Masse aus Blut und Erde. Die rechte Schädelseite war zertrümmert. Eine offene Wunde.
Helgi wischte den Käfer fort und schloss seinem Vater die Augen.
«
Bani
», stieß er hervor und ballte die Hand zur Faust. «Mörder!»
Der Handkarren lag, einige Schritt entfernt, umgekippt in einem Gestrüpp. Helgi stellte ihn auf das Rad. Er fand nur einen einzigen Eisenbarren. Alle anderen waren fort. Der Mörder musste sie mitgenommen haben, nachdem er Einar erschlagen hatte.
Der schreckliche Verdacht, den Helgi im Innersten gehegt, aber verdrängt hatte, war nun bittere Gewissheit geworden. Der Kryppa war Einar von Sliesthorp aus gefolgt und hatte ihn bald eingeholt, denn sein Karren war unbeladen und daher leichter gewesen. Das erklärte die vier Spuren, von denen eine tiefer eingedrückt war. Zwei führten hin nach Sliesthorp, zwei zurück. Dann hatte Gizur Einar feige und hinterrücks erschlagen, die Barren gestohlen und seinen eigenen Karren damit gefüllt.
Mühsam gegen seine Trauer, Wut und Verzweiflung ankämpfend, gelang es Helgi, seinen Vater auf die Ladefläche des Karrens zu legen, den Kopf nach unten, die Beine baumelten vornüber. Die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt.
Das Rad quietschte, als Helgi den Karren die Böschung hinaufschob. Einar hatte es reparieren wollen, weil es nicht rund lief. Aber er hatte keine Zeit gehabt, musste den Auftrag abarbeiten.
Dieser verdammte Auftrag, dachte Helgi. Er hat Einar den Tod gebracht.
29.
Herkias zahnloser Mund schnappte nach dem Essen, gierig wie ein Säugling nach der Brustwarze. Rúna tauchte den Holzlöffel in den Brei. Sie wunderte sich nicht überden Appetit der alten Frau: Der Schmied hatte ihr heute noch keinen Trank eingeflößt. Anfänglich hatte sich Rúna darüber gewundert, dass er Herkia regelmäßig dieses Mittel verabreichte. Aber dann war ihr bald klar geworden, dass ihr Herr seine Frau vergiften wollte.
Als Rúna an diesem Morgen das Haus betreten hatte, hatte ihr Herr noch geschlafen. Erst gegen Mittag war er aufgestanden. Er war kurz angebunden gewesen und hatte das Dinkelbrot und die entgräteten Brachsenfilets, die sie ihm gebraten hatte, verschmäht. Stattdessen hatte er sich einen Becher Met vollgeschenkt und gleich darauf einen zweiten. Dann hatte er in der Werkstatt weitergetrunken. Am Nachmittag war er besoffen.
Die Sklavin hatte sich der Pflege der alten Frau widmen können. Ohne den Einfluss des Giftes schien sie wie verwandelt zu sein. Einmal hatte sie sogar gelächelt.
Die Sklavin wischte Herkia den Brei von den Lippen und berührte ihre Wange. Die Alte seufzte. Dann drehte sie sich auf die Seite und schlief ein.
Rúna ging in die Küche und begann damit, das Geschirr abzuwaschen. Sie stellte Holzschüsseln, Löffel und die Specksteinschale, in der sie den Brei angerührt hatte, in das Regal. Den kalt gewordenen Fisch warf sie in einen Eimer und begann damit, das Brot für den nächsten Tag vorzubereiten.
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