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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Polyester-Overall mit Reißverschluss an der Vorderseite und großen, weichen Aufschlägen bekleidet. Seine kurzen, dicken Füße steckten in weißen Socken und roten Clogs. Auch seine Finger waren verkürzt, die Daumen kaum mehr als krumme Auswüchse an den Handwurzeln. Er hatte einen frischen Teint, und sein Gesicht hatte einen schelmischen, aber dennoch friedfertigen Ausdruck, wie ein Kobold im Ruhestand. Eine Fliege mit Lederbändeln wurde von einem großen, unförmigen, purpurroten Stein gehalten. Am kleinen Finger seiner linken Hand glitzerte ein riesiger Goldring mit einem violetten Edelstein im Cabochon-Schnitt.
    Er sah aus wie Mitte sechzig, aber ich wusste, dass er siebenundsiebzig war, denn ich kannte ihn. Ich verstand auch, weshalb er nur Rot und Violetttöne trug: Es war der einzige Ausschnitt des Spektrums, den er in einer ansonsten schwarzweißen Welt sehen konnte. Eine seltene Form von Farbenblindheit war nur eine von vielen körperlichen Abnormitäten, mit denen er zur Welt gekommen war. Manche, wie die zu kurzen Finger und Ze hen, waren auf den ersten Blick zu erkennen. Andere, wie er mir versichert hatte, blieben im Verborgenen.
    Dr. Wilbert Harrison, Psychiater, Anthropologe, Philosoph, ewiger Student. Ein liebenswürdiger und hochanständiger Mann, was selbst ein mordlustiger, rachesüchtiger Psychopath anerkannt hatte, als er bei seinem Feldzug gegen die Ärzte, die ihn vermeintlich gequält hatten, ausgerechnet Harrison verschont hatte.
    Mich hatte er nicht verschont, und es war nun schon einige Jahre her, dass ich Bert Harrison getroffen und die ganze Geschichte mit ihm zu analysieren versucht hatte. Seitdem hatten wir uns noch ein paar Mal gesprochen, aber nicht sehr oft.
    »Bert«, sagte ich.
    Er drehte sich um und lächelte. »Alex!« Dann begrüßte er Aimée, indem er einfach einen Finger hob. Ohne ihn anzusehen, schenkte sie ihm Tee ein und suchte ein Stück Mandelgebäck aus der Vitrine unter der Schiefertafel für ihn aus.
    Ein Stammgast.
    Er sagte: »Danke schön, Schätzchen«, setzte sich zu mir an den Tisch und fasste, nachdem er Tasse und Teller abgesetzt hatte, mit beiden Händen meine Rechte.
    »Alex. Wie schön, Sie zu sehen.«
    »Freut mich ebenfalls, Bert.«
    »Was treiben Sie denn so?«
    »Das Übliche. Und Sie?«
    Seine weichen grauen Augen funkelten. »Ich habe mir ein neues Hobby zugelegt. Exotische Instrumente, je ausgefallener, desto besser. Ich habe das Einkaufen im Internet für mich entdeckt, einfach fantastisch, die Globalisierung in ihrer schönsten Form. Ich finde immer wieder mal ein Schnäppchen, und dann warte ich auf mein Paket wie ein kleines Kind am Heiligabend; und wenn ich das Instrument dann in den Händen halte, versuche ich herauszufinden, wie man es spielt. Mein Projekt für diese Woche ist eine Rarität aus Kambodscha, ein Instrument mit einer einzigen Seite, von dem ich noch nicht mal den korrekten Namen weiß. Der Verkäufer hat es als ›südostasiatisches Dingsbums‹ angeboten. Klingt grauenhaft, bis jetzt jedenfalls; wie eine Katze mit Bauchschmerzen. Aber ich habe ja sowieso keine Nachbarn.«
    Harrison lebte in einem kleinen lila Haus hoch auf einem Hügel oberhalb von Ojai, umringt von Olivenhainen und Brachland, fast ganz versteckt hinter wuchernden Agaven. Berts alter Chevy Kombi stand stets frisch gewachst in der ungeteerten Auffahrt. Wenn ich Bert dort besucht hatte, hatte ich die Haustür stets unverschlossen gefunden.
    »Macht sicher Spaß«, sagte ich.
    »Es macht einen Riesenspaß.« Er biss in sein Kuchenstückchen, und ein Schwall von Vanillesauce quoll heraus. Er leckte sich die Lippen und wischte sich das Kinn ab.
    »Köstlich. Und, womit haben Sie sich so die Zeit vertrieben, Alex?«
    Er muss an meinem Gesicht gesehen haben, wie schwer ich mich mit der Antwort auf diese Frage tat, denn er legte seine Hand auf meine und sah plötzlich aus wie ein besorgter Vater.
    »Ist es so schlimm, mein Sohn?«
    »Sieht man mir das so deutlich an?«
    »O ja, Alex. O ja, allerdings.«
    Ich erzählte ihm von Robin. Er dachte eine Weile nach und sagte dann: »Hört sich an, als hätte da jemand aus einer Mücke einen Elefanten gemacht.«
    »Das ist keine Kleinigkeit. Sie hat es wirklich satt, dass ich immer wieder diese Risiken eingehe.«
    »Ich meinte eher Ihre Gefühle. Ihre Sorge wegen Robin.«
    »Ich weiß, dass das paranoid ist, aber ich muss immer wieder an damals denken, als sie mich verlassen hat.«
    »Sie hat einen Fehler gemacht«, sagte

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