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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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dachte ich an meinen Vater, der in Mugu stationiert war, und ich fing an zu weinen und hatte plötzlich die fixe Idee, dass ich ihn unbedingt besuchen müsste. Ich musste vier Autos anhalten, um hinzukommen, und als ich den Stützpunkt endlich erreicht hatte, wollte mich die Wache nicht durchs Tor lassen. Ich fing wieder an zu heulen. Es war lange her, dass ich meinen Dad zuletzt gesehen hatte. Er hatte wieder geheiratet, und seine neue Frau hasste mich. Jedenfalls erzählte meine Mutter mir das ständig. Was auch immer die Wahrheit war, jedenfalls rief er so gut wie gar nicht mehr an. Ich plärrte wie ein Baby, und schließlich rief der Wachposten irgendwo an und sagte mir, mein Dad sei nicht da, er sei vor drei Tagen in Richtung Türkei in See gestochen. Ich bin einfach zusammengebrochen, und ich glaube, der Wachposten hatte Mitleid mit mir, denn er gab mir alles, was er an Geld bei sich hatte, dreiunddreißig Dollar und neunundvierzig Cent.« Sie lächelte. »Daran erinnere ich mich noch haargenau.«
    Sie fuhr mit dem Finger unter ihre Brillengläser und rieb sich die Augenwinkel. »Endlich mal jemand, der nett zu mir war. Ich habe mich nie bei ihm bedankt; bis heute weiß ich nicht einmal seinen Namen. Ich ging zu Fuß zurück zum Highway, ließ mich von ein paar Mexikanern mitnehmen, die nach Ventura zur Kohlernte unterwegs waren, und trampte von da weiter die Küste entlang. Meine erste Station war Santa Cruz, und ich blieb dort, weil es so schön war und weil da diese Späthippie-Atmosphäre herrschte; es gab jede Menge Essen umsonst und Parks, in denen man schlafen konnte. Schließlich bin ich dann weitergezogen nach San Francisco, Crescent City, Oregon, Seattle, dann wieder runter nach Sacramento. Die nächsten zehn Jahre verschwimmen irgendwie in meiner Erinnerung. Und schließlich habe ich dann die Kurve gekriegt, mit den Einzelheiten will ich Sie nicht langweilen.«
    »Wie ich schon sagte, wir möchten Ihre Privatsphäre nicht verletzen.«
    Melinda Waters lachte. »Vielen Dank, ist sicher nett gemeint.«

26
    Milo stellte ihr noch ein paar Fragen, etwas behutsamer nun, aber auch ohne konkrete Ergebnisse, woraufhin wir Melinda Waters benommen an ihrem Schreibtisch sitzen ließen. Als ich aus dem Parkplatz herausfuhr, fiel mein Blick auf den rauchenden Schornstein des italienischen Restaurants.
    »Willst du was essen?«, fragte ich.
    »Wenn du meinst… ach ja, warum nicht?«
    »Aber kein Fastfood. Gönnen wir uns was Besseres. Wir haben's verdient.«
    »Wofür denn?«
    »Für die Fortschritte, die wir gemacht haben.«
    »Meinst du wirklich?«
    Die Taverna auf der anderen Straßenseite war in vier kleine, weiß getünchte Stuben aufgeteilt, jede mit einem bienenkorbförmigen Kamin beheizt, die niedrigen Decken mit grob behauenen Holzbalken gegliedert. Bei einer flinken jungen Bedienung, die ehrlich erfreut schien, uns zu sehen, bestellten wir Bier, gemischte Antipasti, Spaghetti mit Kapern, Oliven und Knoblauch und Ossobuco. Nachdem sie gegangen war, sagte Milo: »Fortschritte.«
    »Immerhin wissen wir, dass Janie am Abend des Mordes mit Willie Burns und Caroline Cossack zusammen war. Du zweifelst doch nicht daran, dass sie das pummelige Mädchen war, oder?« Er schüttelte den Kopf.
    Ich sagte: »Melindas Geschichte liefert uns auch ein mögliches Motiv: Eifersucht. Caroline stand auf Burns und hatte den Eindruck, dass Janie in ihr Revier eindrang.«
    »Die ewige Dreiecksgeschichte, mit einem solchen Resultat?«
    »Die ewige Dreiecksgeschichte, kombiniert mit Drogen, pathologischer Veranlagung, einer enthemmten Partyatmosphäre und Janies Rassismus. Kein Mangel an Auslösern. Und noch etwas passt dazu: Der Mord an Janie sah ganz nach der Tat eines sadistischen Sexualmörders aus, und wir haben uns gefragt, wieso keine weiteren Opfer aufgetaucht sind. Denn ein kaltblütiger, sadistischer Sextäter hört nicht einfach so auf. Aber wenn der Mord das Resultat eines augenblicklichen Aufflackerns unkontrollierter Leidenschaften war, dann würde das erklären, warum es bei dem einen Opfer blieb.«
    »Janie war also zur falschen Zeit am falschen Ort.«
    »Melindas Beschreibung zufolge war Janie das perfekte Opfer: unter Drogen, nicht allzu helle, mit einer Neigung zu wirren Fantasien, einer Tendenz, den Leuten auf die Nerven zu gehen, und einer Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch. Wenn man in diese gefährliche Mischung noch ein paar unbedachte ›Nigger‹-Bemerkungen einstreut, kann alles Mögliche

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