Das Buch der Toten
sich das Gesicht und presste die Handflächen gegeneinander.
»Ich war ein sehr schlechter Mensch, Sir. Ich kann nicht behaupten, dass ich heute ein guter Mensch bin, und ich rechne es mir nicht als Verdienst an, wenn ich mich geändert hab, denn es war das Leben, das aus mir einen anderen Menschen gemacht hat.« Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Was kann ein Blinder ohne Füße denn schon groß sündigen?
Ich bilde mir ein, dass ich auch mit Augen und Beinen kein schlechter Mensch wäre, aber ich kann mir nie wirklich sicher sein. Ich trau mir selbst irgendwie nicht so ganz, hier drinnen.« Eine Hand senkte sich quälend langsam herab und berührte seinen Bauch.
Er lachte. »Auge um Auge, Bein um Bein. Ich hab das Leben von vielen Menschen ruiniert, und jetzt bezahle ich dafür. Hätte fast auch Aimées Leben ruiniert. Hab ihr Dope gegeben, eine Riesenpappe LSD. Es war die Idee ihrer Brüder, aber sie mussten mich nicht lange bequatschen. Wir haben sie gezwungen, es runterzuschlucken, toller Witz, hahaha. Sie fing an zu schreien und zu heulen, ist total ausgeflippt, und ich hab mit ihnen daneben gestanden und mich kaputtgelacht.«
Er fuhr sich mit der Hand über die blicklosen Augen.
»Das arme Ding, sie hat vier Tage am Stück fantasiert. Ich kann mir vorstellen, dass es was mit ihrem Nervensystem angerichtet hat. Danach war sie noch langsamer, und das hat ihr das Leben noch schwerer gemacht. Und glauben Sie mir, das Mädchen hat's noch nie leicht gehabt im Leben. Das nächste Mal, als ich sie gesehen hab, das war am vierten Ta g von ihrem Horrortrip. Garvey und Bobo wollten ein paar Pilze kaufen, und ich war ihr Gemüsehändler, und ich hab mich wie üblich in den Bergen mit ihnen getroffen. Und da war sie, hinten im Auto hat sie gesessen, aber nicht still und ruhig, so wie sonst immer. Sie hat rumgewackelt und gestöhnt und sich die Augen aus dem Kopf geheult. Garvey und Bobo, die haben bloß gelacht und gesagt, sie sei die ganze Zeit schon auf dem Trip, seit wir ihr den Stoff gegeben hätten; sie hätte versucht, die Hand in kochendes Wasser zu stecken, sei fast aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen, und schließlich hätten sie sie ans Bett gefesselt. Sie hatte sich die ganze Zeit nicht gewaschen und keinen Bissen gegessen. Die Jungs haben gelacht, aber sie hatten Schiss, weil ihre Eltern zurückkommen sollten, und die Eltern konnten das Mädchen zwar nicht leiden, aber damit wären sie bestimmt nicht einverstanden gewesen. Also hab ich sie mit Barbituraten runtergeholt.«
»Ihre Eltern mochten sie nicht?«
»Kein bisschen. Sie war anders, sah anders aus, benahm sich anders und sie waren eine Familie von Neureichen, denen es verdammt wichtig war, immer und überall eine gute Figur zu machen. Feine Clubs und Empfänge und so was. Diese Jungs waren durch und durch verdorben, aber sie haben sich gut angezogen und sich die Haare gekämmt und das richtige Aftershave benutzt, und schon waren alle zufrieden. Aimée konnte das alles nicht, und sie konnten ihr auch nicht beibringen, sich zu verstellen. Sie war weniger wert als ein Hund in dieser Familie, Sir, und Garvey und Bobo haben das ausgenutzt. Haben alles Mögliche angestellt und es ihr in die Schuhe geschoben.«
»Was denn, zum Beispiel?«, fragte ich.
»Alles, womit sie sich in Schwierigkeiten bringen konnten. Sie haben Geld geklaut, Drogen an andere Jugendliche weiterverhökert, gezündelt. Einmal haben sie auch einen Hund getötet. Das war Bobo. Er hat gesagt, der Hund von der Nachbarin würde ihm zu viel bellen, das ginge ihm auf die Nerven, also hat er ihm vergiftetes Fleisch hingeworfen, und als der Hund tot war, haben er und Garvey Aimée ein paar Mal am Tor vom Hundezwinger vorbeilaufen lassen, immer wenn sie wussten, dass die Nachbarin hinguckt. Die sollte nämlich denken, Aimée war's gewesen. Das waren so die Sachen. Bei mir haben sie damit angegeben, fanden es auch noch komisch. Sie haben über sie geredet, als wär sie ein Stück Dreck. Ich weiß nicht, warum ich auf einmal Mitleid mit ihr hatte, weil ich doch eigentlich kein bisschen besser war als die beiden, aber so war's nun mal. Irgendwas an ihr… sie hat mir ganz einfach Leid getan, ich kann's nicht erklären.«
»Offenbar waren Sie doch anders als die beiden.«
»Nett von Ihnen, dass Sie das sagen, aber ich weiß genau, was ich für einer war.« Er setzte die verspiegelte Sonnenbrille ab und ließ mich zwei eingesunkene schwarze Scheiben sehen, mit
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