Das Buch der Toten
Carolines Verschwinden könnte damit zu tun haben, dass Willie kein unnötiges Risiko eingehen wollte. Er fürchtete, sie könnte reden.«
»Denkst du nicht, dass die Familie irgendwie reagiert hätte, wenn Burns oder sonst irgendjemand Caroline aus dem Weg geräumt hätte? Dass sie dem Depart ment Druck gemacht hätten, damit es den Fall aufklärt?«
»Nicht unbedingt. Sie hatten sich schon immer für Caroline geschämt, die verrückte Schwester, und wenn sie erfahren hätten, dass sie in einen Mord verwickelt war, hätten sie alles darangesetzt, die Sache zu vertuschen. Das passt auch dazu, wie sie in Achievement House isoliert wurde.«
»Mit einem pinkfarbenen Reiter, für alle Fälle«, sagte Milo.
»Burns hat sie trotzdem gefunden. Vielleicht hat sie mit ihm Kontakt aufgenommen. Wer weiß, vielleicht war sie ja dabei, als er Boris Nemerov in die Falle lockte. Wann genau wurde Nemerov exekutiert?«
»Im Dezember, kurz vor Weihnachten. Ich erinnere mich, dass Airs. Nemerov davon sprach; sie sagte, sie seien orthodoxe Christen, die im Januar Weihnachten feierten, und dieses Jahr würde es nichts zu feiern geben.«
»Caroline war im August in Achievement House«, sagte ich.
»Vier Monate später hätte sie wieder draußen sein können.
Willie hat sie vielleicht eigenhändig dort rausgeholt. Vielleicht hatten sie von Anfang an vor, aus der Stadt abzuhauen, und deswegen hatte Burns versucht, in Venice Heroin zu verkaufen.«
»Junge junge, so viele Möglichkeiten«, seufzte er. »Ah.«
Milos Anweisungen folgend, fuhr ich in Richtung Polizeirevier, bog dann in die Purdue ein und hielt vor einem alten roten Backsteingebäude südlich des Santa Monica Boulevard. Der Eingang der Kwik 'n Ready Kautionsagentur war kaum zu übersehen, eine Ladenfront mit Neonschrift über der Tür und goldenen Buchstaben auf der Schaufensterscheibe. Im Gegensatz zu Achievement House machte man hier gerne auf sich aufmerksam.
Ich deutete auf das Schild Halteverbot, Abschleppzone. Milo sagte: »Ich pass schon auf, wenn die Knöllchen-Gestapo kommt. Und wenn alle Stricke reißen, stelle ich die Kaution für dich.«
Das Empfangsbüro war ein stickiges, neonbeleuchtetes Kabuff mit einem hohen Tresen und einer Wandverkleidung aus einem senffarbenen Material, das mit Holz nicht das Geringste gemein hatte. Aus der Rückwand war eine Tür ohne Griff herausgesägt. Links von der Türöffnung hing ein Maxfield-Parrish-Druck, eine majestätische Gebirgslandschaft in Purpurtönen. Hinter dem Tresen saß ein Mann auf einem alten Drehstuhl aus Eichenholz und aß ein großes, feuchtes, in Wachspapier eingewickeltes Sandwich. Er hatte ein rundliches Gesicht und schien Ende dreißig zu sein. Zu seiner Linken standen eine Kaffeemaschine und ein Computer. Zwischen den Scheiben des Sandwichs lugten Kohlblätter, Bratenscheiben und irgendetwas Rotes hervor. Das kurzärmelige weiße Hemd des Mannes war sauber, doch sein Kinn war feucht, und als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, wischte er sich mit einer Papierserviette über den Mund und musterte uns mit argwöhnischen grauen Augen. Dann grinste er.
»Detective Sturgis.« Er hievte seinen massigen Körper aus dem Stuhl hoch und streckte uns einen rosigen Unterarm entgegen. Ein tätowierter Anker färbte die glatte Haut blau. Sein braunes Haar war kurz geschoren, und sein Gesicht sah wie eine Fleischpastete mit angeknabberten Rändern aus.
»Georgie«, sagte Milo, »wie läuft's denn so?«
»Die Menschen sind sehr schlecht, also läuft es sehr gut«, antwortete Georgie. Sein Blick ging zu mir. »Er hier sieht mir aber nicht nach Kundschaft aus.«
»Heute bringe ich dir keine neuen Kunden«, sagte Milo. »Das ist Dr. Delaware. Er arbeitet als Berater für das Department. Doktor, das ist George Nemerov.«
»Ein Doktor für die Cops«, sagte Georgie, während er mir kräftig die Hand schüttelte. »Was ist Ihr Spezialgebiet, Geschlechts oder Geisteskrankheiten?«
»Nicht schlecht geraten, Georgie. Er ist Psychiater.«
Nemerov kicherte. »Die Leute spinnen alle, also läuft's für Sie auch blendend, Doktor. Wenn Sie mehr über dieses Geschäft wüssten, würden Sie auch mich einsperren wollen.« Die schweren Augenlider zogen sich zusammen, die grauen Augen verengten sich. Aber der Rest des weichen, teigigen Gesichts drückte weiterhin Gelassenheit aus. »Also, was liegt an, Detective Milo?«
»Dies und das, Georgie. Isst du auch brav deinen Spinat?«
»Ich hasse das Zeug«, erwiderte Nemerov und
Weitere Kostenlose Bücher