Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Melly. »Man hat sie einfach in der Nähe der Kais liegen lassen! Ich kann und will mir gar nicht vorstellen, was eine solche Verwüstung angerichtet haben könnte.«
Als Petronilla sich nun nach vorn lehnte, funkelten ihre blauen Augen, und ihre Stimme war verschwörerisch. »Es gibt nur eines, das hinter dieser Art von Schändung stecken kann. Vampire!«
Winnie zuckte auf ihrem Sessel zurück, atmete dabei einen Mund voll Kekskrümel ein und bekam einen Hustenanfall. Ihr Doppelkinn und ihre Backen zitterten und schwabbelten, während sie mit großen Augen über den Rand ihrer Teetasse stierte.
»Mach dich nicht lächerlich, Nilly«, wies Melly sie zurecht. »Auch wenn meine Tante dazu neigt, Weihwasser mit sich herumzutragen und allen möglichen ahnungslosen Leuten Knoblauch aufzuzwingen: Es gibt keine Vampire. Du hast zu viele Gespenstergeschichten gelesen.«
»Wenn wirklich Vampire existierten, würden die Gendarmen sie ganz gewiss verhaften«, würgte Winnie hervor. »Vielleicht sollte ich aber trotzdem in Erwägung ziehen, mein Kruzifix wieder zu tragen.«
»Die Gendarmen können sie nicht aufhalten«, widersprach Petronilla ruhig. »Vampire verfügen über übermenschliche Fähigkeiten. Sie sind stärker als der stärkste Mann, und es geht eine unwiderstehliche Anziehungskraft von ihnen aus.« Sie lächelte selbstzufrieden, und ihre Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. »Wenn man Polidoris Buch Glauben schenken darf - und jedermann weiß, dass er Experte auf diesem Gebiet ist -, kann ein Vampir eine Frau mit einem einzigen Blick betören. Von der anderen Seite eines Zimmers aus.«
»Nilly, bist du heute Nachmittag schon am Sherry gewesen? Es gibt keine Vampire!«, schalt Melly. »Du machst Winnie Angst, und die Diener werden dich für verrückt halten, wenn sie hören,
wie du über böse Kreaturen fantasiert, die gar nicht existieren. Wir haben viel wichtigere Dinge, über die wir uns den Kopf zerbrechen müssen - zum Beispiel, wie wir Rockleys Interesse an Victoria weiter schüren können. Ich nehme nicht an, dass er sich bei den Almacks blicken lassen wird, aber vielleicht treffen wir ihn ja bei einer anderen Veranstaltung in dieser Woche.«
Winifred stürzte sich begierig auf das neue Thema. »Er wird morgen Abend zum Ball der Dunsteads erwartet. Falls ihr nicht eingeladen sein solltet, kann ich das arrangieren.«
»Wir sind eingeladen und haben auch die Absicht hinzugehen. Und dieses Mal werde ich Victoria nicht aus den Augen lassen, bis sie mindestens zweimal mit dem Marquis getanzt hat!«
»Wir werden dir helfen«, versprach Winnie und nippte an ihrem ungesüßten Tee. Zucker hatte den unangenehmen Nebeneffekt, sich in Form von ungewollten Pfunden an den Hüften festzusetzen, wenn man nicht aufpasste. »Wenn da wirklich irgendwelche Vampire in der Dunkelheit lauern, ist das Letzte, was wir wollen, dass Victoria einem von ihnen begegnet.«
»Miss Grantworth, es scheint, ich bekomme endlich die Gelegenheit, meinen verpassten Tanz einzufordern.«
Victoria drehte sich zu der warmen, heiteren Stimme um und stand unvermittelt dem Marquis von Rockley gegenüber. Er hatte ein leise schelmisches Lächeln aufgesetzt, und seine blauen Augen funkelten voll Zufriedenheit unter halb geschlossenen Lidern.
»Mylord.« Victoria erwiderte sein Lächeln. »Wie reizend, dass Sie mich an meine schlechten Manieren von neulich Abend erinnern.«
Ihr Sinn für Humor schien ihm zu gefallen, denn er reichte ihr den Arm und entgegnete: »Wie sonst sollte ich Sie dazu bringen, sich um mich zu bemühen? Ich meine, sich einfach so zu verabschieden, nur weil sich eine betagte Tante unwohl fühlt … man könnte glauben, dass es lediglich eine willkommene Ausrede war, um vor unserem Tanz zu flüchten.«
»Hmmm.« Victoria legte die Hand auf seinen Arm. »Mir war nicht bewusst, dass meine Ausflüchte so leicht zu durchschauen sind. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal eine tödliche Krankheit oder etwas in der Art erfinden.«
»Ich hoffe doch sehr, Miss Grantworth, dass Sie sich keine weiteren Entschuldigungen mehr ausdenken werden, um sich vor einem Tanz mit mir zu drücken; ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen nicht auf die Zehen treten werde, auch wenn meine Füße dreimal so groß sind wie Ihre.«
»Ach, ich bin entlarvt. Genau das war der Grund, weshalb ich geflüchtet bin, als unser Tanz an der Reihe war. Die Gerüchte über schwarze und blaue Flecken auf den Füßen der anderen Debütantinnen waren
Weitere Kostenlose Bücher