Das Buch der Vampire 02 - Schwärzeste Nacht
und es ist ja nicht so, als hättest du mich nicht schon in der Vergangenheit in Hemdsärmeln gesehen.«
Anstelle des Grinsens, das sie erwartete, bedachte er sie mit einem Blick, der ihr ein Kribbeln in der Magengegend bescherte. Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Die Tutela beschützt Vampire.« Lässig knöpfte er die Manschetten seines Hemds auf. »Sie tut das schon seit Jahrhunderten.«
»Sie beschützen? Wie? Bieten sie ihnen vielleicht einen Ort, an den die Vampire kommen und mit Sterblichen zusammen einen trinken können?«, fragte Victoria spitz.
Obwohl seine breiten Schultern und die dunkleren, muskulösen Arme im Mondschein schimmerten, als er die Ärmel hochkrempelte, war sein Gesicht wieder von Schatten verhüllt. Wie machte er das nur - seine körperlichen Vorzüge zur Schau zu stellen, während er seinen Gesichtsausdruck verborgen hielt?
Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass Victoria nicht anders konnte, als zu bemerken, wie sich das Hemd um seine Taille schmiegte und jene Schultern nachzeichnete, an denen sich festzuklammern sie einmal die Gelegenheit gehabt hatte. Und möglicherweise wollte sie auch gar nicht wissen, was in seinem Kopf vor sich ging.
»Voilà, und schon versuchst du wieder, mich zu beleidigen, meine Liebe. Gewiss hat dich deine Tante zu Besserem erzogen. Nein, ihr Zweck besteht darin, die Vampire mit Sterblichen zu versorgen, von denen sie sich ernähren. Sie bringen unschuldige Menschen zu den Untoten, damit diese sich mit ihnen vergnügen und ihr Blut trinken können. Tagsüber streifen sie umher und schützen die Interessen und Geheimnisse der Vampire, während diese im Schutz der Dunkelheit bleiben. Sie tun all das Böse, das die Untoten nicht selbst verrichten können oder wollen, mit dem Ziel, deren Macht zu sichern und zu mehren. Die Mitglieder der Tutela sind die Huren der Untoten.«
»Aber warum? Aus welchem Grund sollte jemand so etwas tun?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Trotz allem, was du erlebt und gesehen hast, bist du noch immer so arglos. Ich weiß nicht, ob ich mir wünschen sollte, es wäre anders.« Er legte die Hände wieder um das Geländer in seinem Rücken. »Es gibt Menschen, die sich nach Unsterblichkeit verzehren. Die Lust empfinden, wenn ein Untoter von ihnen trinkt. Die glauben, dass, wenn sie die Vampire schützen, sie selbst im Gegenzug vor dem Übel, das in unserer Welt lauert, geschützt sind.«
Eine beklemmende Erinnerung durchzuckte sie. An blutüberströmte, zerfetzte Körper, zerrissen vom Hals bis zu den Beinen.... an starrende Augen, klaffende Wunden an Kehle und
Brustkorb, an den widerlichen, metallischen Geruch von Blut. An jenen Anblick, der sich ihr geboten hatte, als sie letzten Sommer ein einziges Mal zu spät gekommen war, um eine Vampirattacke zu verhindern, kurz nachdem sie und Phillip geheiratet hatten. Die Bilder waren noch immer eindringlich genug, um ihr gallige Übelkeit die Kehle hochkriechen zu lassen.
Victoria konnte nicht begreifen - konnte einfach nicht fassen -, wie irgendein Mann oder eine Frau solche Kreaturen beschützen, geschweige denn sich mit ihnen verbrüdern oder mit ihnen Umgang haben konnte. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie schließlich, nachdem die Erinnerung verblasst war und sich das Schweigen lange genug ausgedehnt hatte.
»Victoria, ich habe den Silberkelch benutzt, damit die Untoten sich dort treffen und in geselliger Laune Informationen preisgeben. Wie ich dir schon einmal sagte, weiß ich sie lieber an einem Ort, wo ich sie sehen und ausspionieren kann, als ihre Pläne betreffend im Dunkeln zu tappen. Ich bin kein Mitglied der Tutela und war es auch nie. Unabhängig von dem, was ich sonst vielleicht getan haben mag, hoffe ich, dass du mir zumindest das glaubst.«
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, verdammt! Woher sollte sie wissen, ob sie ihm tatsächlich glauben konnte? »Stell dich ins Licht, damit ich dich sehen kann.«
»Aber gerne.« Er trat von der Balkonbrüstung weg, blieb jedoch weder nach einem, zwei oder drei Schritten stehen, sondern erst, als er die Hände um ihre Oberarme gelegt hatte und seine Stiefel ihre Pantoffeln berührten. »Victoria.« Sein französischer Akzent klang in jeder einzelnen Silbe mit und ließ ihr den Atem stocken.
Er beugte sich zu ihr, und sie schloss erwartungsvoll die Augen.
Es war schon mehr als ein Jahr her, seit sie zuletzt die Hände eines Mannes gespürt hatte. Ein ganzes Jahr, in dem sie nicht auf diese ganz besondere Weise
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