Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
zurückdenken, in der sie auch hier gewesen war. Sie war weit nach Mitternacht, fast schon morgens, nur einen Monat nach Phillips Tod blutbedeckt und innerlich erstarrt durch die Haustür gekommen.
Da sollte kein Blut sein.
Der Satz hallte immer wieder durch ihren Kopf, genau wie damals in jener Nacht. Tante Eustacia, die durch das Kommen ihrer Nichte geweckt worden war, hatte ihr mit ruhigem, dunklem Blick zugehört, während Victoria schilderte, wie sie auf einen großen Mann gestoßen war, der versuchte, ein junges Mädchen in den verdreckten Straßen des Armenviertels von Seven Dials zu vergewaltigen. Es war die erste Nacht seit Phillips Tod, in der sie wieder Jagd auf Untote machte, und die Trauer um ihn und ihr Hass auf sich selbst waren aus ihr hervorgebrochen, als sie den Mann mit bloßen Händen angriff.
Als er sich mit einem Messer in der Hand zu ihr umdrehte, hatte sie ihm die Waffe, mit der sie nicht vertraut war, entwunden und sie gegen ihn verwendet – in einer schrecklichen Parodie der Pfählung eines Untoten hatte sie die Waffe in sterbliches Fleisch und Knochen gestoßen. Der Berserker hatte von ihr Besitz ergriffen.
Der Mann hatte noch geatmet, als sie ihn verließ, aber die Tatsache blieb bestehen, dass Victoria einem Menschen schwere Verletzungen zugefügt hatte. Einem Sterblichen, also der Rasse, deren Schutz sie sich verschrieben hatte.
Nach diesem Vorfall hatte sie ihre vis bulla abgenommen und weggelegt. Sie trauerte ein Jahr lang um Phillip, während sie ihr Verlangen zu bezähmen versuchte, zu vernichten und zu rächen. Das war die Zeit, in der sie erkannte, wie schrecklich und gefährlich die Fähigkeiten und Kräfte waren, die sie als Venator hatte – dass man sie einsetzen konnte, um jene zu vernichten, die sie eigentlich schützen sollte.
Als sie die vis bulla wieder anlegte, tat sie dies im vollen Bewusstsein, wer und was sie war und wo ihre Grenzen lagen. Und mit dem Schwur, dass sie ihre Fähigkeiten nicht gegen Sterbliche einsetzen würde. Das stand ihr nicht zu.
Sie holte tief Luft, nahm die Hände auseinander, um die Finger zu strecken und die Anspannung aus ihnen zu vertreiben. Das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte war, dass Mr. Goodwin sogar über den Vorfall in Seven Dials Bescheid wusste. In dem Stadtteil waren Mord und Totschlag doch eigentlich an der Tagesordnung, sie kamen so häufig vor, dass es den Behörden schwerfiel, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. Wenn sie überhaupt über jeden Mord und jede Gewalttat in Kenntnis gesetzt wurden – was eigentlich unmöglich war.
Ich habe jetzt seit fast einem Jahr auf Ihre Rückkehr aus Italien gewartet.
Diese Worte hatten sich ihr eingeprägt und einen Kloß in ihrem Hals hinterlassen.
Sie musste herausfinden, wer – oder was – Bemis Goodwin war.
Kapitel 10
In dem sich ein Straßenräuber an frivolen Vergnügungen beteiligt
M askenbälle waren Victorias Meinung nach nicht gar so schrecklich wie andere gesellschaftliche Ereignisse. Schließlich trug sie selbst jeden Tag eine Art Maske und sie hatte bisher nur einmal an so etwas teilgenommen – kurz nachdem sie und Phillip ihre Verlobung verkündet hatten. Das geheimnisvolle Verwechslungsspiel erinnerte an eine sicherere, unbeschwerte Version ihrer nächtlichen Jagd durch die Straßen. Natürlich lockten Maskenbälle mit den vielen potenziellen Opfern auch Untote an, weil sie dort die Gelegenheit hatten, sich hinter einem Domino oder einer Larve zu verstecken. Trotzdem konnte ein Vampir ein Haus nicht ohne Einladung betreten.
Diese Bedingung reduzierte die Anzahl der Vampire, die die Feier hätten stören können.
Als Victoria aus der schnittigen, mitternachtsblauen Kutsche stieg, rückte sie ihre Maske zurecht und schlang sich ihr R etikül ums Handgelenk. Sie hatte mit Bedacht ein schlichtes Gefährt gewählt und war allein gekommen, damit so lange wie möglich geheim blieb, wer sie war. Trotz der leicht durchschaubaren Versuche ihrer Mutter, ihr James Lacy als Begleiter mitzugeben, hatte Victoria sich sehr bestimmt diesen Bestrebungen entzogen und ihre Mutter eindringlich davor gewarnt, dem neuen Marquis zu verraten, welches Kostüm sie trug – oder dass sie überhaupt plante, zu der Feier zu gehen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand wusste, dass sie da war. Insbesondere George Starcasset und Sara R egalado sollten nichts davon erfahren.
»Wenn du es doch tust, Mutter, schwöre ich dir, dass ich nie wieder irgendeine Einladung von R ockley
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