Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
schritten, und als sie durch die Türen traten, folgte ihnen die Menge.
Eriol sah nun, dass sie sich in einem kurzen, breiten Flur befanden, dessen Wände bis zur halben Höhe mit Wandteppichen bedeckt waren; und auf diesen Gobelins waren viele Geschichten durch Bilder dargestellt, deren Bedeutung ihm zu dieser Zeit noch dunkel blieb. Wie es schien, befanden sich Gemälde oberhalb der Wandbehänge, doch im Dämmer konnte er nichts erkennen, denn die Kerzenträger waren hinter ihm, und vor ihm fiel das einzige Licht aus einer offenen Tür, der ein glührotes Leuchten entströmte wie von einem großen Feuer.
»Das«, sagte Vaire, »ist das Feuer der Geschichten, das im Raum der Scheite lodert; dort brennt es das ganze Jahr hindurch, denn es ist ein magisches Feuer und überaus hilfreich für den Erzähler bei seiner Geschichte – doch ebendorthin gehen wir jetzt.« Und diese Aussicht, sagte Eriol, scheine ihm verlockender als alles andere.
Dann kam die ganze Gesellschaft lachend und schwatzend in den Raum, aus dem das rote Leuchten kam. Es war ein mäßig großer Raum, so schien es jedenfalls im flackernden Schein des Feuers, der über die Wände und die niedrige Decke tanzte, während in Winkeln und Ecken tiefer Schatten lag. Rund um die große Feuerstelle war eine Vielzahl weicher Teppiche ausgebreitet, und schmiegsame Kissen lagen verstreut, und ein wenig seitlich stand ein tiefer Sessel mit geschnitzten Armlehnen und Füßen. Und so kam es, dass Eriol in diesem Augenblick und immer dann, wenn er später zur Zeit des Geschichtenerzählens diesen Raum betrat, das Gefühl hatte, dass dieser immer groß genug war, doch nicht zu weiträumig, und klein genug, doch nicht zu eng, wie groß die Zahl der Anwesenden auch immer sein mochte.
Nun setzten sich alle nach Belieben nieder, Alte und Junge, aber Lindo nahm in dem tiefen Sessel und Vaire auf einem Kissen zu seinen Füßen Platz, und Eriol, der sich, mochte es auch Sommer sein, an der roten Glut erfreute, streckte sich nahe dem Feuer auf den Steinen aus.
Dann sagte Lindo: »Wovon nun sollen heute Abend die Geschichten erzählen? Von den Großen Landen und den Wohnstätten der Menschen; von den Valar und von Valinor; vom Westen und seinen dunklen Geheimnissen, vom Osten und seinem Ruhm, vom Süden und seinen nie betretenen Wildnissen, vom Norden und seiner Macht und Stärke; oder aber von dieser Insel und ihrem Volk; oder von den alten Tagen von Kôr, wo unser Volk einst wohnte? Heute Abend nämlich unterhalten wir einen Gast, einen weitgereisten trefflichen Mann, einen Sohn Earendels, wie mich dünkt. Sollen sie also vom Reisen erzählen, von stürmischer Fahrt im Boot, vom Wind und dem Meer?« 5
Doch auf diese Fragen gab es die verschiedensten Antworten, bis Eriol sagte: »Ich bitte euch, wenn es den anderen nicht unbillig erscheint, so erzählt mir für dieses Mal von eurer Insel; und vor allem anderen auf dieser Insel ist es dieses angenehme Haus und diese freundliche Schar von Jungen und Mädchen, über die ich Auskunft begehre, denn, fürwahr, von allen Häusern erscheint mir dieses als das liebenswürdigste und von allenGesellschaften diese als die entzückendste, die ich je zu Gesicht bekam.«
Da sprach Vaire: »So wisse denn, dass es vormalen, in den Tagen 6 Inwes (und die Geschichte der Eldar weiter zurückzuverfolgen, ist schwer), in Valinor einen Ort lieblicher Gärten gab am Rande eines silbrigen Sees. Dieser Flecken lag nun nahe an den Grenzen des Reiches, aber nicht weit von Kôr entfernt. Wegen seiner Ferne zum Sonnenbaum Lindelos jedoch herrschte dort ein Licht wie an einem Sommerabend, ausgenommen nur, wenn in der Dämmerung auf dem Hügel die Silberlampen angezündet wurden, und dann tanzten und zitterten kleine weiße Lichtlein auf den Wegen, und sie jagten das schwarze Schattengesprenkel unter den Bäumen. Dies war eine Zeit der Freude für die Kinder, denn um diese Stunde geschah es zumeist, dass ein neuer Gespiele über den Pfad herbeikam, der Olóre Malle oder Pfad der Träume genannt wurde. Es ist mir erzählt worden, wenn ich die Wahrheit auch nicht weiß, dass der Pfad mit vielen Umwegen bis zu den Wohnstätten der Menschen führte, doch wir selbst, als wir hierher kamen, haben ihn nie betreten. Ein Pfad war es mit hohen Böschungen und mächtigen überhängenden Hecken, hinter denen viele große Bäume standen, worin ein immerwährendes Geflüster zu leben schien; nicht selten aber krochen große Glühwürmer auf seinen grasigen Rainen
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