Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
zu erschlagen‹ – doch nur jene, die es gesehen hatten, wussten, wie schreckerregend dieses Tier war, fast so groß wie ein Pferd bei den Menschen, und die Glut seines Atems war so gewaltig, dass er alles versengte, worauf er auch traf. Zur Stunde des Sonnenaufgangs brachen sie auf, und bald darauf erspähte Huan eine frische Trittspur unweit der Tore des Königs. ›Dies ist Karkaras’ Spur‹, sagte er.Danach folgten sie dem Fluss den ganzen Tag, und seine Ufer waren an vielen Stellen frisch zertrampelt und aufgerissen, und an den seichten Plätzen war das Wasser verdorben, als hätten sich vor nicht langer Zeit viele Tiere, von Raserei besessen, darin gewälzt und gekämpft.
Nun sinkt die Sonne und wird fahl hinter den westlichen Bäumen, und von Hisilóme kriecht Dunkelheit herab, so dass das Licht des Forstes erstirbt. So kommen sie denn an einen Fleck, wo die Spur sich vom Fluss wegwendet oder sich wie von ungefähr in seinen Wassern verliert, und Huan kann ihr nicht mehr folgen; und darum schlagen sie hier ihr Lager auf, schlafen abwechselnd neben dem Fluss, und die frühe Nacht verrinnt.
Plötzlich, während Beren Wache hielt, war aus der Ferne ein entsetzliches Geräusch zu hören – ein Geheul wie von siebzig rasenden Wölfen –, und dann krachte es im Unterholz, und Schösslinge knickten, als das Entsetzen näher kam, und Beren wusste, dass es Karkaras war. Kaum blieb ihm Zeit, die anderen zu wecken, und sie waren gerade aufgesprungen und noch halb im Schlaf, als eine große Gestalt im ungewissen Mondlicht, das dort durch die Bäume sickerte, auftauchte und wie besessen auf das Wasser zuraste. Da bellte Huan laut, und sogleich änderte das Tier seinen Lauf und kam auf sie zu. Aus seinem Rachen troff Schaum, und ein rotes Licht leuchtete aus seinen Augen, und sein Antlitz war, halb vor Schrecken, halb vor Wut, entstellt. Kaum hatte Karkaras den Schutz der Bäume verlassen, als Huan furchtlosen Herzens auf ihn losging, doch der Wolf sprang mit einem gewaltigen Satz über den großen Hund hinweg, denn sein ganzer entflammter Zorn richtete sich jäh gegen Beren, der im Hintergrund stand, und eine dunkle Ahnung schien ihm zu sagen, dass dort der Urheber all seiner Qualen stand. Da schleuderte Beren blitzschnell einen Speeraufwärts in Karkaras’ Kehle, und Huan sprang noch einmal und packte ihn an einem Hinterbein, und Karkaras fiel wie ein Stein zu Boden, denn im selben Augenblick drang ihm der Speer des Königs ins Herz, und sein verderbter Geist strömte hervor und fuhr mit leisem Heulen über die dunklen Berge zu Mandos; doch Beren liegt unter dem Körper des Wolfs, zerquetscht von dessen Gewicht. Nun rollen sie den Leichnam beiseite und fangen an, ihn aufzuschneiden, doch Huan leckt Berens Gesicht, von dem Blut herabfließt. Bald wird die Wahrheit von Berens Worten offenbar, denn die Eingeweide des Wolfs sind halb verzehrt, als habe ein inneres Feuer dort lange geschwelt, und plötzlich ist die Nacht von einem wundersamen Glanz erfüllt, mit blassen und geheimnisvollen Farben durchschossen, als nämlich Mablung 13 den Silmaril hervorholt. Darauf hält er ihn dem König hin und sagt: ›Schau, o König‹ 14 , aber Tinwelint sagte: ›Nein, niemals werde ich ihn anfassen, es sei denn, Beren übergibt ihn mir.‹ Doch Huan sagte: ›Und das wird wahrscheinlich nie der Fall sein, wenn ihr ihn nicht rasch pflegt, denn mir scheint, dass er schwer verwundet ist.‹ Und Mablung und der König waren beschämt.
Darum hoben sie nun Beren behutsam hoch und pflegten und wuschen ihn, und er atmete, aber er sprach weder ein Wort noch öffnete er seine Augen, und als die Sonne aufging und sie sich ein wenig ausgeruht hatten, trugen sie ihn auf einer Bahre aus Zweigen und Blättern, so vorsichtig wie möglich, zurück durch die Waldlande; und gegen Mittag näherten sie sich wieder der Heimat des Volks, und da waren sie zu Tode erschöpft, und Beren hatte sich weder gerührt noch gesprochen, sondern nur dreimal gestöhnt.
Dort liefen alle Leute zusammen, um sie zu begrüßen, als sich herumsprach, dass sie kamen, und einige brachten ihnen Fleisch und kühle Getränke und Salben und Heilmittel für ihreWunden, und groß wäre ihr Jubel gewesen, hätte es nicht Leid gegeben, das Beren zugestoßen war. Darauf bedeckten sie nun die grünen Zweige, auf denen er lag, mit weichen Kleidern, und sie trugen ihn weiter zu den Hallen des Königs, und Tinúviel erwartete sie dort in großem Kummer; und sie warf sich an
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