Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
Fesseln, fallser dir nicht entkommen und nun weit fort ist.‹ Und dies sagte sie aufs Geratewohl und wider alle Hoffnung, doch das Untier erwiderte: ›Höre! Die Namen aller kenne ich genau, die hier wohnten, bevor die Höhlen eingenommen wurden, und ich sage dir, dass niemand, der sich Túrin nannte, lebend von hier davonkam.‹ Und dadurch geriet Túrins Prahlerei unmerklich zu seinem Schaden, denn diese Untiere lieben es, mit zwei Zungen zu sprechen und mit schlauen Worten zu spielen. 22
›Dann ist Túrin an diesem schlimmen Ort erschlagen worden‹, sagte Mavwin, doch der Drache antwortete: ›Hier verschwand der Name Túrin für immer von der Erde – aber weine nicht, Weib, denn es war der Name eines Feiglings, der seine Freunde verriet.‹ – ›Widerwärtiges Scheusal, höre auf mit deinen boshaften Reden‹, sagte Mavwin, ›Mörder meines Sohnes, schmähe nicht den Toten, damit dein eigener Bannfluch nicht über dich komme.‹ – ›Lege weniger Stolz in deine Worte, o Mavwin, wenn du der Folter entgehen willst und mit dir deine Tochter‹, antwortete der Drache, jedoch Mavwin schrie: ›Oh, du dreimal Verfluchter, wisse, dass ich dich nicht fürchte! Foltere mich und knechte mich, wenn du willst, weil ich in der Tat deinen Tod gewünscht habe, doch lasse nur Nienóri, meine Tochter, zu den Behausungen der Menschen zurückkehren: Ich nämlich habe sie gezwungen, hierher zu kommen, und sie kannte den Zweck unserer Reise nicht!‹
›Suche nicht mich zu erweichen, Weib‹, sagte das Untier. ›Lieber behielte ich deine Tochter und tötete dich oder schickte dich in deine Klause zurück, doch keine von euch ist von Nutzen für mich.‹ Mit diesen Worten öffnete er seine bösartigen Augen zur Gänze, und ein Licht leuchtete darin auf, und Mavwin und Nienóri erbebten darunter, eine Ohnmacht umfing sie, und ihnen war, als tasteten sie sich durch endlose dunkleGänge, wo sie einander nicht wiederfanden, und ihren Rufen antwortete nur ein höhnischer Widerhall, und es gab nicht einen Schimmer von Licht.
Als jedoch nach einer Zeit, die sie nicht ermessen konnte, die Schwärze von Nienóris Geist wich, da waren mit einem Mal der Fluss und die vom Foalóke verheerten Plätze nicht mehr da, sondern es umgab sie tiefer, düsterer Wald. Es schien ihr nun, sie sei aus den Schreckensträumen erwacht und könne sie auch nicht zurückrufen, doch ihr Grauen umdunkelte ihren Geist, und ihre Erinnerung an jedes Vergangene war verblasst. So irrte sie lange Zeit in den Wäldern umher, und vielleicht hielt nur der Zauber sie am Leben, denn sie litt bitteren Hunger und Durst, und zum Glück war es Sommer, denn ihr Gewand wurde zu Fetzen und die nackten Füße taten weh, und sie weinte oft und wusste nicht, wohin sie ging.
Einmal nun erspähte sie auf einer Waldlichtung ein Lager von Menschen, wie ihr schien, und als sie, von Hunger getrieben, näher kroch, entdeckte sie, dass Wesen von vierschrötiger, unschöner Gestalt dort lagerten, die höchst bösartige Gesichter hatten, und deren Stimmen und Gelächter klangen wie Metall gegen Stein. Sie waren mit Krummschwertern und Bogen aus Horn bewaffnet, und bei ihrem Anblick wurde Nienóri von Angst gepackt, obgleich sie nicht wusste, dass es Orks waren, denn nie zuvor hatte sie diese bösen Kreaturen gesehen. Da wandte sie sich zur Flucht, doch sie wurde entdeckt, und ein Ork sandte ihr einen Pfeil nach, der plötzlich zitternd neben ihr in einem Baumstamm steckenblieb, und andere, die sahen, dass sie eine schöne junge Frau war, nahmen mit lautem, misstönendem Geschrei die Verfolgung auf. Nienóri rannte nun, so schnell sie konnte, dem dichten Wald entgegen, doch sie war rasch erschöpft und stand kurz davor, gefangen genommen und schrecklich versklavt zu werden, als eine Gestaltkrachend durch den Wald brach, als habe sie ihre jammervollen Schreie gehört.
Wild und schwarz war das Haar dieses Mannes, doch von grauen Strähnen durchzogen, und sein Gesicht war bleich und tief zerfurcht von Leiden der Vergangenheit, und in seiner Hand trug er ein großes Schwert, das bis auf die Schneiden ganz schwarz war. Damit sprang er auf die anstürmenden Orks los und hieb auf sie ein, und bald ergriffen sie die Flucht, denn sie waren verblüfft, und obgleich einige von ihnen auf gut Glück Pfeile durch die Bäume abschossen, richteten diese keinen Schaden an, und fünf Orks blieben tot zurück.
Darauf ließ sich Nienóri auf einem Stein nieder, und weil sie erschöpft und das Gewicht
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