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Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2

Titel: Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R.R. Tolkien
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der Furcht von ihr genommen war, wurde sie von Schluchzen geschüttelt und konnte nicht sprechen; ihr Retter indes stand neben ihr, wunderte sich über ihre Schönheit und darüber, dass sie so allein durch die Wälder zog, und schließlich sagte er: ›Oh, liebliches Mädchen aus den Wäldern, woher kommst du und wie ist dein Name?‹
    ›Ach, das weiß ich nicht‹, erwiderte sie. ›Doch ich glaube, dass ich fern, fern von meiner Heimat und meinem Volk umherirre, und unterwegs sind mir viele böse Dinge zugestoßen, an die ich mich nur noch dunkel erinnern kann – nein, woher ich komme oder wohin ich gehe, weiß ich nicht‹ – und sie begann aufs Neue zu schluchzen, doch der Mann sagte: ›So will ich dich denn Níniel nennen oder das Mädchen der Tränen.‹ Und als sie das hörte, hob sie ihr Gesicht auf zu ihm, und es war liebreizend trotz der Tränenspuren, und sie sagte mit verwundertem Blick: ›Nein, nicht Níniel, nicht Níniel.‹ Doch an mehr konnte sie sich nicht erinnern, und ihr Gesicht verzog sich peinvoll, so dass sie rief: ›Nein, wer bist du, Krieger der Wälder; warum belästigst du mich?‹ – ›Turambar werde ich genannt‹, sagte er, ›und ich habe weder ein Heim noch eine Sippeund keine Vergangenheit, an die ich denken kann, sondern ich wandere auf ewig umher.‹ Und wiederum verwunderte sich das Mädchen, als es diesen Namen hörte.
    ›Nun trockne deine Tränen, o Níniel‹, sagte Turambar, ›denn ungeachtet meiner Worte hast du Sicherheit gefunden. Wisse, dass ich zu einem kleinen Volk des Waldes gehöre, und fern von hier haben wir auf einer Lichtung eine behagliche Behausung, doch heute wollte es dein Glück, dass wir auf der Jagd waren – ja, auch auf der Jagd nach Orks, denn wir müssen uns tummeln, um diese bösen Wesen von unserem Heim fernzuhalten.‹
    Da ging Níniel (denn so nannte Turambar sie immer, und sie lernte, diesen Namen als den ihren anzuerkennen) mit ihm fort zu seinen Gefährten, und diese stellten kaum Fragen, bestiegen ihre Pferde, und Turambar ließ Níniel vor sich sitzen, und so schnell sie konnten, ritten sie fort von den gefährlichen Orks.
    Als nun Turambar die verfolgenden Orks in die Flucht geschlagen hatte, war es bereits Nachmittag gewesen, doch sie waren meilenweit geritten, ehe sie abermals absaßen, und da war es kurz vor Anbruch der Nacht. Schon als die Sonne unterging, war es Níniel vorgekommen, als würden die Wälder lichter und weniger düster und als sei die Luft weniger unheilschwanger als hinter ihnen. Nun schlugen sie auf einer Lichtung ein Lager auf, und wo das Baumdach dünn war, schimmerten klar die Sterne, doch Níniel lag ein wenig abseits, und die Männer gaben ihr viele Felle, um sie vor den Nachtfrösten zu bewahren, und so schlief sie so sanft wie viele Nächte nicht mehr, und die Winde fächelten ihr Gesicht; Turambar jedoch berichtete seinen Gefährten, wie er sie in den Wäldern getroffen hatte, und sie fragten sich, wer sie sein könne und wie es wohl dazu gekommen sei, dass sie hierher gewandert war wie unter einem Zauberbann rätselhaften Vergessens.
    Am folgenden Tag eilten sie wieder weiter, und so ging es viele Tagesreisen lang, bis sie endlich, erschöpft und der Ruhe bedürftig, eines Mittags zu einem Waldfluss kamen, und diesem folgten sie ein Stück, bis sie an eine Stelle gelangten, wo er überquert werden konnte, denn dort war er flach, und Felsbrocken standen im Flussbett; zu ihrer Rechten jedoch stürzte der Fluss in einem mächtigen Wasserfall in eine Schlucht hinab, und Turambar deutete dorthin und sagte: ›Nun sind wir der Heimat nah, denn dies ist der Wasserfall der Silberschale.‹ Aber Níniel war, ohne dass sie den Grund kannte, von Furcht erfüllt und mochte die Schönheit dieses schäumenden Wassers nicht sehen. Nun wurde der Wald rasch lichter, und sie kamen zu einem Hang, wo nur wenig wuchs bis auf ein paar uralte Eichen von mächtigem Umfang, und das Gras darunter war weich, denn die Lichtung war vor vielen Jahren geschlagen worden und sehr ausgedehnt. Dort stand auch eine Anzahl ansehnlicher Holzhäuser, umgeben von Ackerland und Obstbäumen. Zu einem dieser Häuser, das mit seltsamen plumpen Schnitzereien verziert war und das Blumen strahlend umblühten, führte Turambar nun Níniel. ›Sieh‹, sagte er, ›das ist meine Behausung – dort sollst du, wenn es dir beliebt, für den Augenblick wohnen, doch mir scheint, dass es ein einsames Haus ist; aber es gibt auch noch Häuser dieses Volks, wo

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