Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
meine Knechtschaft unter Melko erleichtert, indem ich mir die Sprache aller Ungeheuer und Kobolde aneignete – habe ich nicht sogar die Sprachen der Tiere erlernt und dabei nicht einmal die feinen Stimmchen der Mäuse ausgelassen? Habe ich nicht den sprachlosen Käfern alberne Liedchen vorgesummt, um sie zum Sprechen zu bewegen? Zuweilen habe ich mich gar mit den Sprachen der Menschen abgemüht – Melko möge sie holen! Sie fließen und verändern sich, verändern sich und fließen, und wenn man sie gefasst hat, sind sie nichts als ein ungefüger Stoff, aus dem man mit Mühe Lieder und Geschichten machen kann. Daher kommt es, dass ich mir vorkam wie Ómar der Vala, der alle Sprachen kennt, als ich heute Morgen dem Konzert der Vogelstimmen lauschte, jede verstand, jedes geliebte Lied wiedererkannte – und mit einem Mal kommt, tirípti lirilla, dieser Vogel daher, ein ungeratenes Kind Melkos – aber ich langweile Euch, Herr, mit meinem Geschwätz von Liedern und Wörtern.«
»Aber nein«, erwiderte Eriol, »doch ich bitte dich, lass dich durch eine junge, vorlaute Amsel nicht entmutigen. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, hast du diesen Garten eine stattliche Zahl von Jahren unter deiner Obhut. Dann musst du eine Menge Lieder und Sprachen kennen, genug, um das Herz des größten aller Weisen zu trösten, wenn dies wirklich die erste Stimme ist, die du hörtest und nicht deuten konntest. Heißt es nicht, dass die Vögel jedes Bezirkes, ja beinahe jedes Nestes, eine andere Sprache sprechen?«
»So sagt man, und man spricht die Wahrheit«, erwiderte Rúmil, »und alle Lieder von Tol Eressea sind zuweilen in diesem Garten zu hören.«
»Voll Zufriedenheit ist mein Herz«, sagte Eriol, »jene schöne Sprache erlernt zu haben, welche die Eldar auf dieser Insel Tol Eressea sprechen – mit Verwunderung freilich höre ich dich so sprechen, als gebe es viele Sprachen der Eldar. Ist das wahr?«
»Gewiss«, entgegnete Rúmil, »denn da gibt es jene Sprache, welcher die Noldoli nun anhängen – und vorzeiten hatten auch die Teleri, die Solosimpi und die Inwir eigene Sprachen. Doch diese waren schwächlich und sind nun in der Sprache der Insel-Elben aufgegangen, die Ihr erlernt habt. Auch gibt es noch die verlorenen Scharen, die voll Wehmut durch die Großen Lande ziehen, und vielleicht sprechen sie nun sehr sonderbar, denn es sind viele Zeitalter vergangen, seit jener Ausmarsch von Kôr unternommen wurde. Und ich glaube, nur das lange Herumwandern der Noldoli auf der Erde und die schwarzen Jahre ihrer Knechtschaft, während ihre Sippe noch in Valinor wohnte, führte zur tiefen Spaltung ihrer Sprache. Gleichwohl sind, wie mein Forschen mich gelehrt hat, die Sprache der Gnomen und das Elbische der Eldar gewisslich miteinander verwandt – aber, ach! Ich langweile Euch schon wieder. Niemals habe ich bis heute in der Welt ein Ohr gefunden, das bei einer solchen Unterhaltung nicht längst müde geworden wäre. ›Was sind schon Sprachen und ihre verschiedenen Arten‹, sagen sie, ›eine einzige genügt mir.‹ Und Winzigherz, der Hüter des Gongs, sagte einmal vor langer Zeit: ›Die Gnomsprache reicht für mich aus – haben nicht Earendel und Tuor und mein Vater Bronweg, dem du unverblümt den falschen Namen Voronwe gibst, diese Sprache und keine andere gesprochen?‹ Doch am Ende musste er Elbisch lernen, wollte er nicht zumSchweigen verdammt sein oder gezwungen, Mar Vanwa Tyaliéva zu verlassen – und keines von beiden hätte er ertragen. Seht, und nun zwitschert er Eldar wie eine Dame der Inwir, ja sogar unsere Königin Meril-i-Turinqi tut es – möge Manwe sie beschützen. Aber damit nicht genug – außerdem gibt es die geheime Sprache, in der die Eldar viele Dichtungen, Bücher der Weisheit und die Geschichte der ältesten Dinge aufgeschrieben haben – und sie dennoch nicht sprechen. Diese Sprache benutzen einzig die Valar bei ihren hohen Beratungen, und nicht viele der Eldar der heutigen Tage können sie lesen oder ihre Schriftzeichen entziffern. Vieles davon lernte ich dank der Güte Aules in Kôr vor mehr als einem Lebensalter, und daher weiß ich viele Dinge, sehr viele Dinge.«
»Dann«, sagte Eriol, »kannst du mir vielleicht Dinge erzählen, die zu erfahren mich sehr gelüstet, seit ich die Worte am abendlichen Feuer der Geschichten gehört habe. Wer sind die Valar – Manwe, Aule und die anderen, die du genannt hast –, und warum verließen die Eldar ihre liebliche Heimat in Valinor?«
Die beiden
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