Das Buch der Zeit Band 2: Die Sieben Münzen
der Stuhllehne, die Schultasche, die Ballettschuhe . . . die Wände in zartem Violett, wie nicht anders zu erwarten – und überall Orlando Blum: als Elf, als Pirat, als trojanischer Krieger, im Schneidersitz, stehend, die Arme vor der Brust verschränkt, liegend, mit überkreuzten Fingern. Die komplette Sammlung des Halbgottes.
Also, überlegte Sam, wo kann sie die Sachen versteckt haben?
Er sah in den Schränken nach, unterm Bett, hinter den Vorhängen: Fehlanzeige. Zwischen den Büchern, hinter dem Regal, hinter der Kommode: Fehlanzeige. Auf einem Lautsprecher der Stereoanlage saß Zan, Lilis Lieblingskuscheltier, ein schlabberiger Hund mit grauem Fell, der ihn mit seiner vorwitzigen Schnauze und den langen Ohren, die fast bis auf den Boden hingen, irgendwie herausfordernd ansah. Die Ohren! Was seine Cousine ihm vorhin im Auto zeigen wollte, war kein tollwütiges Kaninchen gewesen, sondern ihr Lieblingskuschelhund!
Samuel packte ihn und schüttelte ihn in sämtliche Richtungen, obwohl er eigentlich zu klein war, als dass in ihm ein Buch versteckt werden konnte. Dann untersuchte er den Lautsprecher etwas näher. Er kippte ihn von rechts nach links: Etwas bewegte sich in seinem Innern! Vorsichtig löste er am Rand den schwarzen Lautsprecherschutz: Bingo! Das »Buch der Zeit« rutschte heraus, dazu das kleine schwarze Notizbuch seines Vaters. Die drei gelochten Münzen waren mit Klebestreifen innen am Boden des Lautsprecherkastens befestigt. Sorgfältig drückte Sam das Schutzgitter wieder in den Rahmen. Seine Cousine hatte zwar einen zweifelhaften Geschmack, wenn es um Farben ging, aber im Verstecken war sie einfach unschlagbar!
Erst in seinem Zimmer auf dem Bett schlug Samuel das dicke Buch auf. Auf jeder Seite die gleiche Überschrift: »Delphi, das Heiligtum des Apollon«. Dazu zwei Schwarz-Weiß-Zeichnungen, von denen die eine die Ruinen der Siedlung aus der Vogelperspektive zeigte, die andere den Tempel des Apollon mit einigen erhalten gebliebenen mageren Säulen. Die Abbildungen stammten vermutlich vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Der zugehörige Text erzählte, wie der Legende nach der Sohn des Zeus erst einen furchtbaren Drachen hatte besiegen müssen, um an dieser Stelle seinen Tempel erbauen und seinen Kult ins Leben rufen zu können. Am Rande wurde auch der Nabel der Welt erwähnt, auf Griechisch omphalos genannt, der berühmte Stein, den zwei Adler dort niedergelegt hatten, um den Mittelpunkt der Welt zu markieren.
Der omphalos. . .
Samuel setzte sich an seinen Rechner und startete sofort eine Internet-Recherche. Eigentlich interessierte ihn weniger die Geschichte des omphalos, sondern eher das, was ihm in den letzten Tagen passiert war. Er fand einige Fotografien des Steins – er hatte in der Tat die Form einer Ellipse – und vor allem einige Artikel, die bestätigten, was er vermutete: Auch wenn sich das Original des omphalos im Museum von Delphi befand, gab es doch verschiedene Kopien, darunter auch eine aus Gold, die lange Zeit als verschollen galt, bis sie vor Kurzem plötzlich wieder aufgetaucht war und bei einer Versteigerung in London für umgerechnet zehn Millionen einhundertfünfundzwanzigtausend Dollar verkauft worden war. Verkäufer war eine private Gesellschaft namens Arkeos, die sich auf hochpreisige Antiquitäten spezialisiert hatte und die angab, das Stück von einem anonymen Sammler erhalten zu haben, dessen Name laut Vereinbarung nicht bekannt gegeben werden durfte. Der Käufer war eine große japanische Bank, und die Transaktion hatte vor zwölf Tagen stattgefunden. Vor zwölf Tagen!
Samuel klickte den Link arkeos.org an und stieß einen erstaunten Schrei aus, als sich die Homepage öffnete. Das Firmenzeichen von Arkeos war ein geschwungenes großes U, das an zwei Widderhörner erinnerte und sich um eine Sonnenscheibe schloss . . . Das gleiche seltsame Zeichen wie die Tätowierung auf der Schulter des Einbrechers, mit dem er im Museum zusammengestoßen war! Wie war das möglich? Es sei denn . . . Sam grauste bei dem Gedanken, der sich ihm aufdrängte: Sollte sein Vater den Nabel der Welt gestohlen haben, in der Hoffnung, ihn an Arkeos verkaufen zu können? Das hieße, dass er mithilfe des Sonnensteins nach Delphi »gereist« und in die Schatzkammer der Athener eingebrochen wäre und bei seiner Rückkehr das Ding zu Geld gemacht hätte. Nur dass sich die Geschichte dann anders entwickelt hatte als geplant. . .
»In was für ein Wespennest hast du da bloß
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