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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Menschen haben eine abgrundtiefe Abneigung gegen den Gedanken des Zufalls. Denn dies hieße ja, wir hätten keinerlei Kontrolle. Deshalb ist unser Hirn eine einzige Kontingenzmaschine: Wir suchen unentwegt nach Mustern und Erklärungen. Wenn Menschen Krebs bekommen oder einen Unfall erleiden, konstruieren sie sofort einen Sinn: Der Unfall »musste geschehen, weil …« Der Krebs ist womöglich Resultat einer schlechten Lebensweise oder negativer Gedanken oder »Karma«. Sinnlosigkeit ist unerträglich, weil sie uns keine Chance von gerichteten Handlungen lässt – und das ist schließlich das, worauf der Mensch evolutionär geeicht ist.
    Viertens und daraus folgend: Ideologie und kognitive Vereinfachungen binden Ängste. Einfache, klischeehafte Denkmuster sind mentale Kontrolloperationen, die uns das Gefühl des Coping geben, obwohl gar keine Handlungen stattfinden. Polarisierungsbrillen, in denen alles in Schwarz und Weiß, Oben und Unten, Wahrheit und Verrat zerfällt, sind Teil eines Psycho-Immunsystems, mit dem sich unser Geist/Körper gegen Zumutungen und Überforderungen schützt. Wie mit allen Immunsystemen gilt auch hier: Sie können außer Kontrolle geraten. Ideologien, Fanatismus, Populismus sind nichts anderes als die »Allergien« unseres mentalen Systems. Unser geistiges Immunsystem läuft Amok und zerstört sich selbst.

Die Synchronisation der Meinung
    Bereits in den sechziger Jahren entwickelten Sozialpsychologen Experimente, um menschliches Verhalten unter dem Aspekt des »Gruppendrucks« zu analysieren. Das Muzafer-Serif-Experiment zum Beispiel bildet bis heute einen Standard für die Synchronisation von Meinungen. Der türkische Sozialpsychologe ließ in
verschiedenen Anordnungen Versuchspersonen in einen dunklen Raum führen und bat sie darum, die Bewegungen eines Lichtpunktes zu beschreiben, der in etwa zehn Metern Entfernung auf eine dunkle Wand projiziert wurde. Dabei erwies sich, dass jede Person diese Bewegungen in einer individuellen Weise wahrnimmt. Bei einigen flackert oder flimmert er, bei anderen macht er kreisförmige Bewegungen oder er pulsiert – Effekte der individuellen und unkontrollierbaren Vibrationen des Augapfels.
    Bei allen Versuchsabläufen ergab sich das gleiche Bild. Sobald sich mehrere Personen im Raum befanden und über ihre Wahrnehmungen kommunizierten, bildete sich eine Mehrheitsmeinung, eine Gruppennorm: »der Punkt zittert« oder »der Punkt pulsiert«. Am Ende einer Sitzung sahen bis zu 90 Prozent die gleiche Bewegung des Punktes! Die Urteile der anderen bestätigen dann die eigene Abweichung von der ursprünglichen Wahrnehmung, die als »anfängliche Täuschung« definiert wurde. Bei späteren Befragungen behaupteten alle Versuchsteilnehmer trotzdem, ihr Urteil völlig eigenständig getroffen zu haben. 5
    Wie stark dieses Gleichrichterprinzip und die Illusion der autonomen Urteilsbildung 6 unsere tägliche Kommunikation prägen, lässt sich durch einen kleinen »Ehrlichkeitstest« schnell illustrieren. Beantworten Sie bitte folgende Frage: Welchem der folgenden drei Sätze stimmen Sie voll und ganz zu?
    1. Politiker sind korrupt und unfähig.
    2. Lehrer sind innovationsfeindlich und im Grunde ziemlich faul.
    3. Beamte bemühen sich nicht bei der Arbeit.
    Ich vermute, dass Sie mit diesen Formulierungen nicht wirklich konform gehen. Allzu offensichtlich sind dies Klischees der plattesten Sorte: Es gibt sehr gute Politiker und Lehrer, und auch Beamte leisten in unterschiedlichen Bereichen gute Arbeit. Jetzt aber die Ergänzungsfrage:
    Wie oft haben Sie den obigen Formulierungen schon in größeren Runden oder beim Sehen von Talkshows, bei denen Ähnliches geäußert wurde, zugestimmt?

    Die »selbstregulierende Konsensbildung« macht soziale Beziehungen einfacher. In der langen Geschichte der Menschheit bot sie unschätzbare Überlebensvorteile, weil sie Menschengruppen zu schnelleren Handlungen befähigte. Konsensbildung ist nichts anderes als eine »Heuristik der Gefahr«: Wenn alle in eine Richtung rennen, ist es besser, dies auch zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dafür einen guten Grund gibt, ist relativ hoch. »Animal spirits« nennen die Ökonomen Akerlof und Shiller (unter Berufung auf Keynes) diesen Herdentrieb in ihrem gleichnamigen Buch und erklären damit unter anderem die Finanzkrise.
    Dasselbe Phänomen bietet eine fantastische Möglichkeit für kollektives Priming und ist der Grund, warum Reichsparteitage funktionieren und Aufsichtsräte fatale

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