Das Buch des Wandels
. Die Typen strahlten auf eine unnatürliche Weise von innen. Ich höre noch die schönen blonden Frauen, die in jedem Seminar mit sanfter Stimme immer wiederholten, dass dies alles hier doch nur objektiv im Klasseninteresse der Bourgeoisie stattfinde … Und lächelten, unentwegt lächelten. In einem Stil, wie ich ihn danach
erst viele Jahre später bei Tom Cruises Fernsehaufzeichnung seines Coming-out als Scientologe wieder gesehen habe.
In Ideologien ziehen wir uns in ein virtuelles Reich zurück, in dem die Dinge auf das Wunderbarste geordnet sind. Hier üben wir vollkommene Kontrolle aus. Damals wie heute sind die Mantras des »Großen Dagegenseins« mächtige Waffen gegen die Komplexität der Welt:
Der Kapitalismus ist an allem Schuld.
Der Planet wird ruiniert, die Natur zerstört durch Kapitalinteressen.
Der kleine Mann wird vom System immer nur betrogen.
Heute gehört diese Klischeerhetorik zum guten Ton in so gut wie jeder Talkshow, in zahllosen Büchern und Filmen. So triumphiert in der Medienkultur der neuen Art ein »Biedermeier-Bolschewismus«, eine Verbindung von konservativem Spießertum (»Alles soll so bleiben, wie es früher mal besser war«) und populistischem Zorn (»Die Reichen sind schuld!«).
Das Resonanzsystem der Wahrnehmung
Warum neigen Menschen auch individuell zu Weltbildern, die gegenüber der Wirklichkeit eine ganz offensichtliche Unterkomplexität aufweisen? Warum präferieren wir Klischees, Karikaturen, Verkürzungen, Schwarzweißdenken – reduzierte Bilder der Wirklichkeit? Neurobiologie, Evolutions- und Kognitionspsychologie können uns auf diese Frage neue Antworten geben:
Erstens: Das Hirn ist dumm, weil es schlau ist. Es rationalisiert Komplexität aus ähnlichen Gründen, wie es Gefahren nach Relevanzkriterien »freischaltet«. Würde es alle Aspekte in die Abwägung einbeziehen, würde es verrückt beziehungsweise handlungsunfähig. Der Verhaltenspsychologe Gerd Gigerenzer hat mit seinem Konzept der »begrenzten Rationalität« einen damit zusammenhängenden Effekt beschrieben: Wenn wir vor Entscheidungssituationen stehen, in denen unsere Informationen nicht
ausreichen können, greift unser Hirn zu »Heuristiken«. Damit bezeichnen wir die Art und Weise, in der wir mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu guten Lösungen kommen. In der Alltagssprache sprechen wir auch von »Bauchgefühl« oder »Instinkt«. Egal, ob es um Partnerwahl geht, Berufsentscheidungen, Rätsel des Alltags, wir sind im modernen Leben ständig mit Situationen konfrontiert, in denen unsere Anstrengungen, vollständig informiert zu sein, ins Leere laufen. Also machen wir es uns einfach. Wir entscheiden, ob wir jemanden mögen, auf den ersten Blick. Und bündeln vielschichtige Informationen unter »Gier« oder »Kapitalismus«, weil wir uns dann nicht auf komplizierte Operationen einlassen müssen.
Zweitens: Gedanken sind in Wirklichkeit getarnte Bilder. Und diese Bilder sind stark mit Gefühlen und dem Körper verknüpft. Antonio R. Damasio zeigt in »Descartes’ Irrtum«, wie unsere limbischen, rationalen und körperlichen Systeme als ineinander verwobene Schaltkreise funktionieren. »Gefühle sind ›der mentale Effekt‹ eines inneren Gewahrwerdens von Körperzuständen, deren Veränderungen ihrerseits durch bestimmte, von äußeren Reizen ausgelöste mentale Bilder verursacht sind.« 3 Der Psychologe Thomas Fuchs bezeichnete in seinem neuen Buch das Gehirn als »ein Beziehungsorgan, das in ständiger Verbindung mit Nerven, Muskeln, Eingeweiden, Sinnen steht«. 4
Klingt kompliziert? Vielleicht geht es so einfacher: Versuchen Sie einmal alle sinnlichen, mit Gefühlen verbundenen, körperlichen, bildlichen Aspekte aus den Sätzen »Ich werde ein Haus bauen« oder »Ich gehe einkaufen« oder »Meine Freunde kommen zu Besuch« zu eliminieren. Würden wir das schaffen, so Damasios These, bliebe vom Denken nicht einmal ein Torso übrig. Bei »Haus« entsteht vor unserem inneren Auge automatisch eine komplette Geschichte unserer Hauserfahrungen (dunkle Keller, Weihnachtsfeste, Gerüche etc.). »Einkaufen« ist immer mit Jäger-und-Sammler-Assoziationen verbunden, plus den wunderbaren Gefühlen der Üppigkeit, Sättigung, Aneignung. Unser »Denken«
ist eine innere Bildersprache, in die Wünsche, Ängste, Begierden, Erfahrungen eingewebt sind. Wir sind nicht, weil wir denken. Wir denken, weil wir fühlen, wollen, leiden, hoffen …
Drittens: Wir können Zufall in keinem Fall Glauben schenken.
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