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Das Buch des Wandels

Titel: Das Buch des Wandels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Horx
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Entscheidungen treffen. Andererseits sollte man auch seine positiven Aspekte nicht ignorieren. In gewisser Weise ist das Leben immer dem »Stress der Wildnis« ausgesetzt, unser endokrines System kann es gar nicht anders sehen. Deshalb imaginieren wir uns auch in Zeiten sicherer, demokratischer, humaner Verhältnisse jede Menge Bedrohungen, Verrat, Gefahren. Oder Gespenster.

Das Gespenst der Erwartung
    Im Frühjahr 2009 kam einer der spektakulärsten Kriminalfälle Europas zu einem spektakulären Höhepunkt. Fast zwei Jahre lang hatten fünf Sonderkommissionen, sechs Staatsanwaltschaften in drei Bundesländern Deutschlands, Kriminalbeamte in Österreich, Frankreich und Belgien nach einer gefährlichen Frau gesucht, die an 40 (!) Tatorten deutliche DNA-Spuren hinterlassen hatte. Eine ungeheure kriminelle Energie sprach aus ihren Verbrechen, die von mehreren Profilergruppen monatelang analysiert worden waren. Die Kosten allein dafür beliefen sich auf zweistellige Millionenbeträge. Diese Frau, auch »das Phantom« genannt, brach in Gartenhäuser in Österreich, Frankreich und Deutschland ein, wo
sie sich mit Zigaretten, Alkohol und Essen versorgte. Sie handelte offenbar im großen Stil mit Waffen bis hinunter nach Rumänien. Sie ermordete insgesamt sechs Menschen, die Serie begann mit einem Mord in Idar-Oberstein. Im April 2007 wurde in Heilbronn die Polizistin Michèle K. erschossen, an ihrem Dienstwagen klebte die DNS der unbekannten Frau. Sie war überdies drogensüchtig – ihre DNA wurde auf mehreren Spritzbestecken gefunden. Sie beherrschte viele Sprachen, denn sie arbeitete mit Albanern, Türken, Serben und französischsprachigen Chinesen zusammen. Und sie mischte sich offensichtlich auch in private Konflikte ein. So fand man ihre DNA auf den Projektilen eines Revolvers, der im Rahmen eines tödlichen Roma-Familienstreites abgefeuert wurde.
    Wer konnte diese Frau sein? Wer stand hinter der ausgefeilten Logistik? Die Profilerköpfe rauchten. Nach Augenzeugenberichten sah sie aus wie ein Mann. Eine Killer-Lesbe, wie einige Zeitungen vermuteten? Eine tschetschenische Terroristin, die Nomadin des Verbrechens geworden war? Eine islamistische Terroristin, die aus der letzten Generation der RAF stammte? Insgesamt 312 Spuren wurden ausgewertet, im gesamten mitteleuropäischen Raum, mit der Ausnahme seltsamerweise von Bayern. Dort fand sich keine einzige DNA-Spur, als hätte die Route der Verbrecherin immer mit dem Flugzeug über bayerisches Territorium geführt.
    Erst am 20. März 2009, nach fünf Jahren Suche und vielen Millionen investierter (Staats-)Gelder, fand man die Lösung. Die DNA gehörte zu einer gemütlichen Mittfünfzigerin, verheiratet, drei Kinder. Der Angestellten einer Firma, die Wattestäbchen herstellte und verpackte. Für die Polizei in Frankreich, Belgien, Österreich, Rumänien und einigen deutschen Bundesländern. Aber nicht für die bayerische Polizei, die einen anderen Wattestäbchenlieferanten hatte.
    Das Beispiel der »Phantommörderin« zeigt, wie komplette »Erwartungsräume« entstehen, Räume für Projektionen, die von kollektiven Denkweisen und -systemen hervorgebracht werden.
Die Phantommörderin entstand wie eine Art Negativabdruck einer Fantasie der perfekten Verbrecherin. Solche Fälle kollektiver Projektionen ziehen sich wie ein gigantisches Maya-Mem durch die menschliche Geschichte. Sie steuern menschliches Verhalten bis in seine Katastrophen hinein.
    Am 24. Juni 2009 betrat die junge chinesische Arbeiterin Huang Cuilian, die in einer Spielwarenfabrik beschäftigt war, aus Versehen das falsche Zimmer in einem Wohnheim in der südchinesischen Stadt Shaoguan. Als sie dort zwei uigurische Wanderarbeiter sah, stieß sie einen lauten Schrei aus und verließ den Raum. Am nächsten Tag verbreitet sich bei den örtlichen chinesischen Wanderarbeitern das Gerücht, man hätte die Schreie einer chinesischen Frau gehört, während sie von zwei Uiguren vergewaltigt wurde. Nein, es seien sechs Uiguren und zwei Chinesen gewesen. Wütende han-chinesische Männer erschlugen daraufhin am 26. Juni vor den Fabriktoren zwei Uiguren und verletzten 120 weitere. Anfang Juli tauchte ein Handyvideo mit diesen Ereignissen in der uigurischen Hauptstadt in der Provinz Xinjian auf. Die Folge waren mörderische Ausschreitungen von Uiguren und Gegenangriffe der Chinesen, bei denen nach offiziellen Angaben 197 Menschen ums Leben kamen.
    Den »Erwartungsraum« dieser Eskalation bildet ein seit Jahrzehnten

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