Das Buch Gabriel: Roman
schmerzt, denn es ist genau das, was ich so lange für erstrebenswert gehalten habe – aber ironischerweise entspricht es jetzt, wo ich es gefunden habe, überhaupt nicht meinen Anforderungen.
Zufriedenheit schürt nämlich keinen Exzess.
Ach, ach. Vorbei an einem Bartträger, der mich an meinen Vater als jungen Mann erinnert, betrete ich eine Bar Ecke Zionskirchplatz. Aus der Kirche in der Mitte des kopfsteingepflasterten Platzes wehen Fetzen des Deutschen Requiems herüber.
In der Bar bestelle ich ein Bier und nutze die ersten anregenden Schlucke, um meine Erkundigungen in Sachen Pego zu präparieren. Nur nichts überhasten, für den Fall, dass Specht sehr gut bekannt ist. Es könnte sein, dass Späher ihm sonst berichten, ich hätte übereifrig gewirkt. Sehen Sie? Nach dem ganzen Tumult von vorher habe ich ein bemerkenswertes Maß an Konzentration erreicht. Es reicht sogar so weit, dass ich beschließe: Wenn ich den Club finde, nehme ich mir fünf Minuten Zeit, um die Räumlichkeit in aller Ruhe zu erfassen und nach Specht Ausschau zu halten. Habe ich sein Äußeres und sein Auftreten erstmal im Kopf und die Räume, auf denen unsere Hoffnungen ruhen, gesehen, kann ich mich auf eine Zigarette zurückziehen und mir die entsprechende Haltung für ein offizielles Verkaufsgespräch zulegen. Innerhalb dieser Zeitspanne werden sich das Publikum, die Art des Türpersonals, die Musik und die Ausstattung in mir verankern, mich impfen wie die Hormone einer Marius-Traube. Enthusiasmen sind eine Kraft, die gleich und gleich gesellt, weswegen es einfach helfen muss, eine Dosis Pego aufzunehmen.
Wie aufregend die Enthusiasmen sein können! Es ist, als würde man einen Umhang tragen. Genussvoll trinke ich mein Bier, bestelle einen Schnaps, und als die Barfrau damit zurückkommt, fange ich auf Deutsch mit meiner Ermittlung an:
»Entschuldigung …«
»Was wollen Sie?«, blafft sie auf Englisch.
»Ich suche den Pego Club.«
»Piggo?«, sagt sie. »Den Piggo Club?«
»Pego. Pe-go.«
Sie zuckt mit den Schultern und gibt die Frage ruppig an eine andere Kellnerin weiter, die ausdruckslos zurückstarrt.
»Es gibt zwar immer noch ein paar angesagte Clubs in der Gegend«, ruft mir ein abgerissener Mann ein paar Barhocker weiter zu. »Aber du hättest in den Neunzigern kommen sollen. Dein erster Tag?«
Ich betrachte den Mann. Obwohl eindeutig Deutscher, spricht er amerikanisches Fernsehenglisch und hat das begrenzt gute Aussehen und die vorsätzliche Ungepflegtheit des Vollzeitkneipenhockers, der es auf Touristen mit kleinem Budget abgesehen hat.
»Ich war in den Neunzigern schon hier«, sage ich. »Kennen Sie das Pego?«
»Dude« , lacht er, »du warst in den Neunzigern in keinem Club. Du warst mit deinem Teddy im Bett.«
Ich merke, wie sich in mir alles sträubt, und halte kurz ein. Wie erstaunlich – ich habe jetzt schon eine Besitz ergreifende Attitüde gegenüber Berlin. Wie kann er es wagen, größeren Anspruch auf die Stadt zu erheben als ich. Und dann auch noch auf die Neunziger. Einen Moment lang grolle ich vor mich hin und wundere mich über meine territoriale Marotte. Mit einigem Unbehagen erkenne ich sie schließlich als ziemlich britische Macke. Es ist die Eifersucht der Familie Jones, wenn im Urlaub eine frisch angereiste rothaarige Familie ihrem Kellner Miguel zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Da haben sie ihn im Laufe einer Woche von Samstag bis Samstag so umsichtig gepflegt und sein Lachen zu dem ihren gemacht, und plötzlich:
Nennen fürchterlich fette neue Rotschöpfe ihn Manuel.
»Gibt’s das Pego noch?« Ich starre in meinen Schnaps. »Ich glaube, es war irgendwo an der Brunnenstraße.«
»Wow, da hat aber jemand den Stadtplan studiert. Brunnenstraße. Wir betonen das ›unn‹ mehr, so: Br unn -en-sh-traße.« Er schiebt sich die Theke entlang an meine Seite. »Wenn du Mädchen suchst, dude …«
»Tu ich nicht, danke.« Ich bezahle meine Getränke und gehe.
»Hey, mein Freund!«, ruft er mir nach. »Mein Freund!«
Aber ich trete in mein eigenes Berlin, ein weitläufiges, friedliches Berlin, in dem überall die Straßenbahnen quietschen. Mein lebenslanger Sonntag, meine gestrenge alte Frau .
Mein heimlicher Miguel.
Auch in zwei weiteren Bars und einer Döner-Bude hat man noch nie vom Pego oder vom Giganten Gerd Specht gehört. Ich halte vier Studenten an – dasselbe. Auf halber Strecke die Straße hinunter finde ich einen Imbiss, der noch offen hat, und befinde, dass ein kleiner Laden dieser
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