Das Buch Gabriel: Roman
Master-Limbus nachvollzog, blieb meine Aufmerksamkeit an einer Kreditkartenanzeige hängen. Sie schien in jeder Hinsicht völlig gewöhnlich zu sein – außer in einer: Sie versprach keinerlei positiven Nutzwert, den die Karte mit sich bringen sollte. Dafür verhieß sie Schlechtes in Form von Ungemach und Unannehmlichkeit für denjenigen, der keine solche Karte besaß. Der »Nutzen« dieser Karte wurde in negativer Logik dargestellt, zweifellos, um von ihrem Mangel an tatsächlichen Vorzügen abzulenken.
Ich war perplex.
Mein Tod passt in dasselbe Muster. Ich muss den »Nutzen« einfach nur negativ darstellen. Ja, ja, mein Mentoren-Limbus und seine Methoden! Aus Smuts’ Perspektive mangelt es nämlich auch meinem Tod an Sinnfälligkeit. Für jemanden, der das Für und Wider auf normale Weise abwägt, wäre es undenkbar, zu sterben und einen Freund im Gefängnis zurückzulassen. Aber unter den Vorzeichen einer invertierten Moral wäre es sogar erstrebenswert – denn wenn mein Leben anderen derart schadet, dass sie sogar im Gefängnis landen, dann verhindert mein Tod nur weiteren Schaden.
Ein Heureka-Moment. Und was mich noch stärker macht: Jetzt, wo ich eine Möglichkeit gefunden habe, um weiterzumachen, stehen mir sofort wieder die skrupellosen Werkzeuge der Limbus-Zwischenwelt zur Verfügung, die ich vor allem dazu nutzen kann, Smuts zu helfen.
Was, um den Markt selbst zu zitieren, eine Win-win-Situation ist.
Schnell kopiere ich Verdrahtung und Verkabelung dieser Ethik in meinen eigenen Limbus. Plötzlich kann er schon krabbeln und legt erste Ausdifferenziertheiten an den Tag.
Derart gerüstet steige ich im Vollbesitz meiner Kräfte aus dem Flugzeug.
Ach, die Enthusiasmen. Warum nicht Berlin? Ich werde für Smuts die Performance meines Lebens hinlegen. Ich werde aus meinem Limbus herausholen, was geht. Und wenn ich es recht bedenke, kann ich auch den Anteil meines Vaters mit in die Waagschale werfen. Er hat gesagt, dass er seinen Geschäftsanteil einfach aufgegeben hat, Sie haben es doch auch gehört. Das ist es! Ich werde seinen Anteil einfordern – dieser Gerd Specht wird die Schwere seiner Schuld spüren und sich für jeden Plan offen zeigen. Bankette in Berlin – was sollte er dagegen haben? Und für Smuts’ Zwecke muss ja noch kein Feuer unter den Töpfen sein, es braucht nur ein zustimmendes Nicken, ein paar Details und eine einstweilige Referenzliste, um den Sponsoren zu beeindrucken.
Wie dumm meine Ängste im Licht der Wirklichkeit betrachtet waren!
Ich fege aus dem Flieger und warte ungeduldig auf meine Tasche. Es dauert nicht lange, Berlin-Tegel ist ein zweckmäßiger, wie ein Donut geformter Flughafen, in dem jedes Gate eine eigene Passkontrolle, ein eigenes Gepäckband und einen eigenen Zoll hat, jeweils nur ein paar Schritte von der Straße entfernt und ohne den geringsten Anflug von Bedrohung, Übergriffigkeit oder Shopping.
Als ob einfach nur gewollt wird, dass ich passiere.
So kommt es, dass ich fünf Minuten später auf dem Bürgersteig im Inneren des Donuts unter einem Abendhimmel stehe und eine Flasche Marius aussuche, mit der ich den Lüstling Specht beeindrucken will. Während ich eine Zigarette rauche, erwäge ich sogar, mit Tapeten behelfsmäßig ein Weißes Zimmer zu errichten. Um ihm zu zeigen, was er erwarten kann. Während ich darüber nachdenke, wo ich um die Zeit noch Tapete herbekomme, wuchtet ein alter Taxifahrer meine Tasche in sein Taxi. Ich steige ein und betrachte ihn mit der Ehrfurcht, mit der man manchmal den ersten Einheimischen eines mythischen Ortes begegnet.
»Zum Pego Club, bitte«, sage ich auf Deutsch und mustere seine preußischen Hängebacken.
»Wohin? Piko?« Er verharrt auf halbem Weg hinters Steuer.
»Pe-go. In der Brunnenstraße?«
Der Mann steht immer noch gebückt in der Tür, so, als ob wir die Mission am besten direkt wieder aufgeben sollten. Allzu sehr entmutigt mich das nicht; er gehört zu einer Generation, die sich aus dem Clubleben zurückgezogen hat, und realistischerweise gestatte ich auch dem Pego, in einer mit Clubs voll gestopften Stadt seit Anfang der Neunziger umgezogen zu sein oder den Namen geändert zu haben. Ein solch unbeholfener Moment nimmt mir genauso wenig die Hoffnung wie meine Eingeborenen-Ehrfurcht bei meinem ersten authentischen Berliner. Außerdem: Er könnte ja auch Ostberliner sein; in meiner Erinnerung war es ein Merkmal aller Ostberliner, mürrisch und seltsam zu sein. Joie de vivre war bei den Kommunisten
Weitere Kostenlose Bücher