Das Buch Ohne Gnade: Roman
oder?«
Emily schüttelte lächelnd den Kopf. Dieser Jacko war ein wahrer Plagegeist. »Manchmal sieht es tatsächlich so aus«, gab sie leise zu. »Aber ganz ehrlich, ich liebe es, vor einem Publikum aufzutreten. Und was ist deine Begründung? Weshalb singst du?«
Jacko schaute zur Decke. »Ich habe mich selbst verloren. Habe total vergessen, weshalb ich eigentlich zur Musik gekommen bin. Dies hier, diese Show, ist nur ein schneller Weg zu Geld und Bewunderung. Man erspart sich damit die Ochsentour, nicht wahr?«
»Man verschleudert sein Talent und verkauft sich unter Wert, oder?«, meinte Emily trocken.
»Genauso ist es.«
»Demnach trittst du lieber in der Clubszene auf.«
Jacko seufzte. »Ja. Ich würde liebend gerne wieder in die Clubszene zurückkehren. Verrauchte Bars, das ist es, wo die magischen Momente stattfinden. Wo man auftritt, um seine nächste Mahlzeitzu bezahlen, und wo man genau weiß, dass das Publikum es einen sofort spüren lässt, wenn man versagt hat.« Er deutete in Richtung des Zuschauerraums. »Das Publikum da draußen würde auch noch einen Affen mit einem Banjo bejubeln, wenn er nur eine traurige Geschichte zu erzählen hat. In Clubs zu singen, das ist das wahre Leben.«
Er hatte Recht und Emily wusste es. »Ich stimme dir zu«, sagte sie. »Die glücklichsten Momente meines Lebens hatte ich in der Clubszene. Dorthin möchte ich irgendwann wieder zurück und meine eigenen Sachen singen, weißt du. Nicht jemand anderen imitieren. Das wäre einfach toll. Vielleicht kriege ich ja die Chance dazu, wenn ich hier gut abschneide. Im Augenblick wollen die Leute mich jedoch lieber als Judy Garland sehen.«
»Demnach verkaufst du dich unter Wert.«
»Tun wir das letztlich nicht alle?«
»Ja, das tun wir. Aber man kann sein Familiengold nur einmal verscherbeln.«
»Wie das?«
»Wenn man einmal seine Prinzipien verraten hat, gibt es kein zurück mehr. Man kann sich seine Glaubwürdigkeit nicht zurückholen, wenn man sie niemals besessen hat.«
»Ich habe mein Lehrgeld in den Clubs gezahlt«, verteidigte Emily sich.
»Ich auch, aber sieh uns doch mal an. Wir treten unter anderen Namen auf. So habe ich mir meine Karriere nicht vorgestellt. Ich meine, sieh mich an. Ich bin der absolute Versager. Die Blues Brothers waren kaum mehr als selbst eine Tribute-Band, und ich imitiere einen Tribute-Act, bin also die Kopie einer Kopie. Viel tiefer kann man eigentlich nicht mehr sinken, oder?«
Er schien aufrichtig zu bedauern, wie sich die Dinge für ihn entwickelt hatten. Zum ersten Mal wurde Emily bewusst, dass sie ihren Traum, eine eigenständige Sängerin zu sein, begraben hatte, um als Judy-Garland-Imitatorin den Dollars nachzujagen. Sollte sie diesen Wettbewerb gewinnen, wäre sie für immer abgestempelt.Als Star einer Realityshow würde sie niemals als etwas anderes glaubwürdig sein. Man würde sie stets nur als die Frau kennen, die sang wie Judy Garland. Aber das war der Preis, den sie für den ersehnten Erfolg zahlen müsste. Es hatte keinen Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen.
»Ganz so schlimm ist es doch gar nicht, Jacko«, sagte sie und versuchte zuversichtlich zu klingen. »Wenn du gewinnst, kannst du all deine Träume wahr machen. Du kannst in die Clubszene zurückkehren und hättest keine Geldsorgen mehr.«
Jacko setzte seine Sonnenbrille wieder auf. »Weißt du, Emily, Träume werden wahr«, sagte er und stand auf. »Aber man muss dafür bezahlen.« Er lächelte sie an und fügte hinzu. »Ich muss mich jetzt frischmachen, denn ich bin einer Minute an der Reihe. Es war nett, mit dir zu reden.«
Emily dachte an ihre frühere Unterhaltung mit dem Bourbon Kid. Er hatte davon gesprochen, dass der Sieger dieses Wettbewerbs seine Seele an den Teufel verkaufen würde. Nun verstand sie, was er damit meinte. Es hatte offensichtlich eine rein metaphorische Bedeutung.
Oder etwa nicht?
SECHSUNDVIERZIG ♦
Elvis stand vor dem Jurorentisch und ließ den Blick von einem Juror zum nächsten wandern. Er hatte soeben seine beste Adaption des Titels »You’re The Devil In Disguise« abgeliefert und wartete auf ihre Reaktion. Er war vermutlich so nervös wie nie zuvor in seinem Leben, was bedeutete, dass er, gemessen an seinen Konkurrenten, praktisch immer noch die Ruhe selbst war.
Der Plan war gewesen, den Song zurückhaltend und dezent darzubieten, um Julius’ Chancen zu erhöhen, den Wettbewerb mit seiner James-Brown-Nummer zu gewinnen, aber als er an der Reihe war und es hart auf hart
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