Das Buch Rubyn
die Chronik des Lebens?«
»Genau. Es wird auch das Buch Rubyn genannt. Und wie gesagt: Die Gabe eines langen Lebens ist nur ein Teil seiner Macht. Der Hüter des Buches – jener Kranke, von dem der Schweinehändler erzählt – und seine Gefährten versteckten das Buch Rubyn an einem geheimen Ort, und so lange sie in seiner Nähe waren, lebten sie weiter, ein Jahrhundert nach dem anderen. Dann kommt dieser Mann nach Malpesa. Vielleicht hat er die Chronik des Lebens bei seinen Gefährten gelassen und außerhalb der Reichweite seiner Macht wird der Mann krank und stirbt. Warum er sich zu einer solchen Reise aufgemacht hat, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann.«
Sie gingen weiter, aber Michaels Neugier war noch nicht befriedigt.
»Dr. Pym?«
»Ja?«
»Das letzte Buch, die dritte Chronik, ist also … nun, es ist …«
Der Zauberer blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
»Ja«, sagte der alte Mann. »Das letzte Buch ist die Chronik des Todes. Aber das soll uns jetzt nicht bekümmern.« Er betrachtete den Jungen, wobei sich das Licht der Fackel in den Brillengläsern des alten Mannes brach. Es sah so aus, als ob kleine Flammen in seinen Augen tanzten. »Hugo hat recht. Du siehst deinem Vater wirklich sehr ähnlich.«
Und wieder fühlte Michael trotz allem, was passiert war und was immer noch vor ihnen liegen mochte, ein warmes Glühen, das sich von seiner Brust bis hinunter in seine Fingerspitzen und seine Zehen ausbreitete. Er genoss jede Sekunde dieses Gefühls.
Ganz leise sagte er: »Cool.«
»Ja«, sagte der Zauberer, »das ist wirklich cool.«
Zehn Meter weiter fanden sie die Inschrift.
Ein Teil der Tunnelwand war glatt geschmirgelt worden, und jemand hatte dort das gleiche Zeichen eingemeißelt wie auf dem Sarkophagdeckel: drei ineinander verschlungene Kreise. Darunter war – ebenfalls in den Stein gehauen – etwas zu sehen, was Michael für Schriftzeichen hielt, obwohl ihm die Sprache gänzlich unbekannt war. Sie erinnerte ihn entfernt an Chinesisch oder Japanisch, weil die Zeichen kunstvoll und verziert gearbeitet waren. Aber es gab keinerlei Zwischenräume, alles schien ineinanderzufließen. Michael konnte nicht einmal erkennen, ob man es von links nach rechts oder umgekehrt, von oben nach unten oder von unten nach oben lesen musste.
Er fand es wunderschön.
»Erstaunlich.« Dr. Pym hielt seine Fackel ganz nah an die Wand und packte Michaels Schulter. »Nach all diesen Jahren … Ich habe so lange gesucht. Wir sind nah, ganz nah dran.«
»Was steht da?«, fragte Michael. »Können Sie das lesen?«
»Ja, das kann ich. Es ist die uralte Sprache, in der die Chroniken vom Anbeginn verfasst sind. Hier steht der Schwur des Ordens geschrieben.« Er deutete auf die Schrift unter dem Symbol und las laut vor. Seine Stimme wurde als Echo von den Tunnelwänden zurückgeworfen: » Bezeugt, ihr alle, dass ich, ein Namenloser, meine Stärke, mein Leben, meinen letzten Atemzug diesem heiligen Ziel weihe. Nichts und niemand wird antasten, was ich zu schützen geschworen habe. Dies sei mein Eid, bis der Tod mich davon entbindet .«
Michael fand, dass dies ein sehr guter Schwur war. Wenn ein Zwerg ihn geschrieben hätte, wäre vermutlich noch die eine oder andere Androhung von Gewalt eingeflochten, wie etwa Helme einschlagen oder Harnische durchbohren, oder eine hübsche Metapher, die den Schwur mit einem zehnmal gehärteten Schwert verglichen hätte. Aber Michael war sich darüber im Klaren, dass man nicht bei allem Zwergenstandards anlegen durfte.
»Aber der Text geht noch weiter«, bemerkte Dr. Pym in diesem Moment und tippte mit dem Finger auf den unteren Teil der Inschrift. » Ich habe versagt. Meine Mission ist gescheitert. Ich lasse zurück, was mir überantwortet wurde, in der Hoffnung, dass der wahre Hüter eines Tages kommen möge. Triff die Wahl des Weisen, und du wirst nicht sterben. Triff die Wahl des Narren, und du wirst dich zu mir gesellen … Und aus Drei wird Eins .«
»Was soll das heißen?«, fragte Michael.
»Aus Drei wird Eins, ist eine Anspielung auf die Chroniken vom Anbeginn. Nach der Legende werden die drei Bücher eines Tages wieder zusammenkommen und als Einheit ihr Schicksal erfüllen. Aber was mich viel mehr interessiert, ist dieser Teil hier: Ich lasse zurück, was mir überantwortet wurde, in der Hoffnung, dass der wahre Hüter eines Tages kommen möge. Das hört sich so an, als ob unser geheimnisvoller Freund tatsächlich eine Art Karte hinterlassen hat, die uns
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