Das Buch Rubyn
befand sich ein hölzerner Tisch und ein Stuhl. Und auf dem Stuhl saß etwas, das ihn anstarrte.
Emma war auf das Dach eines großen Mausoleums geklettert und von ihrem Ausguck aus konnte sie sowohl in das Rattengrab schauen – was sie aber nicht tat – und weit über die zerklüftete Silhouette des Friedhofs. Die Brücke nach Malpesa war nicht mehr zu sehen. Alles war dunkel und still.
Um sich die Zeit zu vertreiben und um nicht an das Rattengewimmel denken zu müssen – selbst wenn es nicht echt war –, stellte sich Emma vor, dass Kate aus der Vergangenheit zurückgekommen wäre und neben ihr säße. Sie musste nur den Kopf drehen, und da würde Kate sitzen, sie anlächeln und in die Arme nehmen. Je länger sie sich das ausmalte, desto wirklicher wurde das Bild, bis Emma tatsächlich glaubte, Kate sei da und warte nur darauf, dass ihre kleine Schwester ihre Anwesenheit bemerken würde.
Schau nicht hin , befahl sie sich. Es ist niemand da. Schau nicht hin.
Emma schaute hin. Sie war allein.
Als sie sich wieder umdrehte, musste sie sich mit der Hand über die Augen wischen. Die Lichter von Malpesa verschwammen in der Ferne. Sie schlang die Arme um ihre Knie und wiegte sich leicht vor und zurück.
Ich will Kate wiederhaben, dachte sie. Ich will Kate ich will Kate ich will Kate ich will Kate …
Die Nacht war kalt und düster. Nichts rührte sich auf dem Friedhof.
Was Michael und der Zauberer jetzt wohl machten?
Sie schaute auf. Die Lichter in der Ferne waren immer noch leicht verschwommen und wieder rieb sich Emma über die Augen. Sie schaute erneut hin. Die Lichter bewegten sich. Sie wollte schon aufstehen, dachte dann aber an Michaels Warnung und duckte sich. Dann spähte sie durch die Dunkelheit.
Die Brücke nach Malpesa war wieder da. Eine lange Reihe aus Fackeln bewegte sich darüber hinweg auf die Insel zu.
Emma griff nach dem Stock, den der Zauberer ihr gegeben hatte, und rannte zur Kante des Mausoleums. Sie musste Dr. Pym warnen. Aber dann hörte Emma eine Stimme, ganz in der Nähe: »Sie sind hier. Schwärmt aus! Findet sie!«
Erschrocken erkannte Emma, dass eine zweite Truppe sich bereits auf dem Friedhof befand. Sie hatte sie nicht bemerkt, weil sie an Kate gedacht hatte! Sie verfluchte sich und ihre Unachtsamkeit. Dr. Pym hatte ihr eine einzige Aufgabe zugeteilt und die hatte sie vermasselt!
Sie hörte das Trampeln von schweren Stiefeln. Dann kam wieder diese Stimme. Sie hatte einen Akzent, den Emma nicht einordnen konnte.
»Findet die Kinder! Habt ihr gehört? Ich will die Kinder!«
Sie ließ sich vom Mausoleum herab und ging daneben in die Hocke, sah Fackeln blitzen zwischen den Grabsteinen auf. Sie musste etwa zehn Meter über offenes Gelände rennen, um zu dem Rattengrab zu gelangen. Auf dieser Strecke würde sie völlig ungeschützt sein. Aber es gab keinen anderen Weg. Emma riss sich zusammen, sauste hinüber zu dem offenen Steinsarkophag, kletterte hinauf – und erstarrte.
Unter ihr wogte ein Meer aus Ratten. Panik stieg in ihr auf.
Sie hörte die schweren Stiefelschritte näher kommen.
Spring , befahl sie sich selbst. Jetzt sofort!
Und damit stieg sie in das Grab hinunter und betete, dass sie sich nicht würde übergeben müssen.
Was da auf dem Stuhl saß und Michael anschaute, war ein Skelett. Der Tote – Michael war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte – war in die Fetzen eines uralten, zerfallenen Waffenrocks gekleidet und saß direkt an der Mitte des Holztisches, von wo aus er jedem, der die Kammer betrat, entgegenblickte. Die Hände des Skeletts ruhten auf dem Tisch, die rechte umklammerte den Griff eines gezückten Schwertes. An einem Fingerknochen seiner linken Hand hing ein Goldring mit dem Zeichen, das Michael mittlerweile vertraut war: die drei ineinander verschlungenen Kreise.
Es kam Michael so vor, als ob das Skelett ihn betrachten würde.
»Michael!« Die Stimme des Zauberers überschlug sich fast. »Antworte mir! Bist du verletzt? Bist du in Gefahr?«
»Mir … mir geht’s gut! Warten Sie mal einen Moment!«
Michael trat vorsichtig näher an den Tisch mit dem Skelett. Das Gerippe rührte sich nicht.
Okay, dachte Michael, ganz ruhig. Schauen wir mal, was wir hier haben.
Der Tisch war gedeckt, als würde der Knochenmann Besuch erwarten. Drei Gefäße standen in einer Reihe und davor ein antiker Metallkelch. Der Kelch stand nicht vor dem Skelett, sondern auf Michaels Seite des Tischs. Michael schaute wieder zu dem Gerippe. Es hatte
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