Das Buch Rubyn
abzuholen. Sie flogen weiter.
Gabriel untersuchte sie auf Verletzungen und versorgte die Schnitte und Kratzer, die Michael davongetragen hatte. Als Gabriel vor ihm kniete, bemerkte Michael die grauen Strähnen im schwarzen Haar des großen Mannes und die Falten in seinem Gesicht. Ihm wurde bewusst, dass – anders als Dr. Pym – Gabriel nur ein Mensch war. Es waren fünfzehn Jahre seit ihrem Abenteuer in Cambridge Falls vergangen. Gabriel sah immer noch unüberwindlich stark und kräftig aus. Aber Michael spürte unwillkürlich eine neue Behäbigheit, nicht in den Bewegungen, sondern in der Haltung des Mannes.
»Wie fühlst du dich?«
Michael zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, wie er diese Frage beantworten sollte. Zu viel war geschehen. Und er kam sich in den Kleidern des Piloten dumm vor.
»Ihr werdet den Zauberer wiedersehen«, sagte Gabriel.
»Und Kate?«
»Sie auch.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich sie kenne.«
Michael hatte Gabriel erzählt, was auf dem Dach geschehen war, dass der Zauberer zurückgeblieben war, um zu verhindern, dass Rourke ihnen folgte – oder wenigstens, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen. Ihm, Michael, fiel die Aufgabe zu, das Buch Rubyn zu finden. Es konnte ihm niemand verübeln, dass er nicht erwähnte, wie er beinahe zusammengebrochen wäre und Dr. Pym angefleht hatte, er möge doch mitkommen, weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle. Beschämt vergrub Michael diese Erinnerung an einem tiefen, dunklen Ort, wo er sie hoffentlich nie mehr wiederfinden würde.
Das Flugzeug hatte keine Sitze, nur einige Klappbänke und so saßen sie nebeneinander am Boden, in Decken gehüllt und mit dem Rücken gegen die Kabinenwand gelehnt. Emma hatte Gabriels Hand ergriffen und hielt sie in ihrem Schoß, teils weil es angenehm war, teils um sicherzugehen, dass ihr Freund nicht einfach wieder verschwand.
»Sag mir«, forderte Gabriel ihn auf, »was du über die Chronik des Lebens weißt.«
Michael holte tief Luft und erzählte – auch für Emma, die es noch nicht wusste –, wie er in die Kammer mit dem Skelett gekommen war und dass er die Flüssigkeiten der drei Behälter gemischt und getrunken hatte. Danach war ihm plötzlich klar geworden, wo die Chronik des Lebens verborgen war.
» Das hast du da drin gemacht?« Emma boxte ihn auf den Arm. »Das war ja wohl ober-dämlich! Mach so was nie wieder, hörst du? Nie wieder! «
»Okay.«
»Das will ich dir auch geraten haben.« Und sie boxte ihn noch einmal, für alle Fälle.
Michael rieb sich die schmerzende Stelle am Arm und musste unwillkürlich grinsen.
»Was meinst du damit, du hättest plötzlich gewusst, wo das Buch ist?«, wollte Gabriel wissen. »Hattest du eine Vision?«
»Ich weiß nicht. Es war eher so, als ob ich mich daran erinnern würde, wo es ist. Als ob ich derjenige wäre, der es versteckt hat. Das hört sich verrückt an, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Emma.
»Nein«, sagte Gabriel. »So etwas ist nicht ungewöhnlich in der magischen Welt. Der tote Mann hat irgendwie seine Erinnerungen in diesen Flüssigkeiten kondensiert, und als du sie getrunken hast, gingen sie auf dich über.«
»Aber ich sehe nur Bruchstücke«, sagte Michael. »Nichts, was ich auf einer Karte wiederfinden würde.«
»Na ja, aber irgendeine Richtung muss ich dem Piloten angeben. Wohin sollen wir fliegen?«
Ohne nachzudenken, sagte Michael: »Nach Süden. Sag ihm, wir fliegen nach Süden.«
»Es gibt nichts südlich von Malpesa.«
»Oh doch«, sagte Michael. »Da gibt es etwas.«
Gabriel schaute ihn lange an, nickte und ging dann zum Cockpit.
Michael setzte sich, in seine Decke gewickelt, und überließ sich dem Geschaukel und Gebrumm des Flugzeugs. Gabriel kam zurück und erklärte, das Flugzeug habe genug Treibstoff, um einen Außenposten auf dem Ronne-Gletscher an der Küste der Antarktis zu erreichen. Dort würden sie das Flugzeug auftanken, warme Kleidung für die Kinder kaufen und nachdenken, wie es weitergehen sollte. Der Flug zur Antarktis würde fast die ganze Nacht dauern.
»Deine Schwester macht es richtig.«
Michael blickte zur Seite und sah, dass Emma die Augen geschlossen und ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. Sie schlief. Als Michael sich wieder zu Gabriel wandte, betrachtete der große Mann sein Gesicht aufmerksam. Michael war klar, dass Gabriel abschätzte, ob er genug Kraft hatte für das, was vor ihnen lag.
»Mir geht’s gut«, sagte Michael. »Ich bin nur müde.«
Aber seine Stimme
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